betonprisma 86: Wissen

Wer lernen will, muss zuhören können

Zur Akustik in Räumen mit Sichtbetonwänden.

Architekten wissen die spannungsreiche Energie einer Sichtbetonwand zu schätzen, die besonders bei der Gestaltung von Innenräumen aufgrund der materiellen Gegensätze zu kühnen Ideen führt. Wie aber lässt sich unter solchen Bedingungen eine optimale Raumakustik erzeugen?

Das Auditorium der Zollverein School of Management and Design in Essen ist dafür ein typisches Beispiel. Hier hat das japanische Architektenteam SANAA gleich alle vier Raum begrenzenden Wände inklusive der Decke in reizvollem, aber schallhartem Sichtbeton belassen. Damit stemmten sich fünf von sechs Oberflächen gegen das Gesetz einer guten  Raumakustik, wonach in großen Räumen genügend dämpfende Schallabsorberflächen vonnöten sind, um die Nachhallzeit im Griff zu behalten. Dennoch hat die Sprachverständlichkeit im Vortragssaal nicht gelitten – ein Beleg dafür, dass sich gute Raumakustik und schöne Sichtbetonflächen nicht ausschließen.

Im Auditorium sind zusätzlich die umgebenden Glaswände leicht nach innen geneigt ...

Besonders schonungslos offenbart  sich die unverhüllte puristische Materialität einer Sichtbetonwand in Innenräumen – ihr kühler Charakter wird hier nicht vom sanften Licht der Sonnenstrahlen gemildert, es fehlt die Distanz des Außenraumes, und das menschliche Auge erfasst die bloße Struktur des Betons wie eine Lupe die Unregelmäßigkeiten auf der menschlichen Haut. Bei solch harter Oberfläche haben Schallwellen keine Chance, sich in Ritzen, Poren oder Lunkern zu verlieren, sondern prallen wie ein Ball an der Wand ab und werden nahezu ungebremst zurück in den Raum  reflektiert. In Vortragssälen, Hörsälen, Kirchen oder Konferenzsälen kann dies unangenehme Folgen für die Raumakustik haben, besonders wenn die abgewiesenen Schallwellen auch an der gegenüberliegenden Wand, am Boden und an der Decke keine absorbierenden Flächen vorfinden, in denen sie sich verkriechen könnten. So bleibt ihnen nur das ziellose Umherirren zwischen  den schallharten Oberflächen, was natürlich die Halligkeit eines Raumes umso negativer beeinflusst, je länger es dauert, bis die Intensität der Schallwellen von selbst bis zur Unhörbarkeit abgeflaut ist.

Eine schallharte Nuss

Soweit das grundlegende Prinzip, dem sich auch das Auditorium der Zollverein School unterwerfen musste – oder anders gesagt, das für das japanische Architektenteam SANAA und die beauftragten Fachplaner eine harte Nuss war, die es zu knacken galt, wollten sie mit dem herausragenden Entwurf nicht in Schönheit zugrunde gehen. Denn die Bedingungen für einen raumakustischen Gau waren theoretisch durchaus gegeben: Fünf der sechs Raum umschließenden Begrenzungsflächen des Vortragssaales waren von Beginn an in schallharten Materialien geplant. Alle vier Außenwände des kubischen, viergeschossigen Gebäudes sind aus Beton gegossen, dessen edle Oberfläche innen wie außen maßgeblich die karge Architektur des 35 x 35 x 34 Meter messenden Würfels bestimmt. Auch die Betondecke des Vortragssaales blieb unterseitig unverhüllt, nicht zuletzt aus raumklimatischen Gründen. Sowohl zwischen der Bewehrung der Decke als auch in den nur 30 cm dicken Sichtbetonwänden mäandert ein Rohrsystem, in dem knapp 30°C warmes Grubenwasser zirkuliert, das aus den Stollen der nahe liegenden, stillgelegten Zeche gepumpt wird. Dieses kostenlose Nass ersetzt die ansonsten unverzichtbaren, wärmedämmenden Schichten in der Außenwand und reguliert durch entsprechend temperiertes Wasser sommers wie winters das Klima des gesamten Gebäudes. Neben den vielen Sichtbetonflächen verboten auch die zahlreichen Glasflächen an der Lochfassade sowie die Glastrennwand zum Foyer einen schallabsorbierenden Flächenausgleich. Somit blieben am Ende nur der Fußboden und die Bestuhlung, um die Nachhallzeit in dem Vortragssaal auf das notwendige Maß zu begrenzen.

Den Nachhall unter den Teppich gekehrt

Das Essener Architekturbüro Heinrich Böll, dem die japanischen Architekten die Generalplanung in die Hände gelegt hatten, vertraute für diese knifflige raumakustische Situation den Erfahrungen des Ingenieurbüros Müller-BBM, das bereits beim Plenarsaal des Deutschen Bundestages mit ähnlichen Problemen zu kämpfen hatte. Anstatt Sichtbetonwänden waren es beim Reichstag die vielen Quadratmeter an Glasflächen, die eine vergleichbar ungünstige raumakustische Ausgangssituation geschaf fen hatten. Damals konnten die Ingenieure ebenfalls nur die Fläche des Doppelbodens sowie elektroakustische Hilfsmittel nutzen, damit die Reden der Politiker nicht ungehört im Plenarsaal verhallten. Denn vorwiegend die Halligkeit eines Raumes bestimmt das Maß, wie verständlich eine Rede bei den Zuhörern ankommt. Je länger die Nachhallzeit, umso mehr überdecken sich die Wörter und Silben und umso unklarer wird das Hörvermögen. Proportional zur Größe eines Raumes steigt auch dessen Halligkeit – eine Verdoppelung des Raumvolumens verdoppelt demnach auch die Nachhallzeit, wenn keine schallabsorbierenden Flächen ausgewiesen werden. Die einzige Fläche, die sich beim Auditorium der Zollverein School als Absorberfläche anbot, war der aufgeständerte Boden, unter dem die Belüftungsanlage versteckt war. Die Frischluft strömt nach dem Quellluftprinzip über zahlreiche Löcher im Boden zugluftfrei in dem Raum. Den nach hinten leicht ansteigenden Doppel-Rohboden belegten die Fachplaner mit einem akustisch geeigneten, luftdurchlässigen Verloursteppich, der eine ausgewogene, breitbandige Schallabsorption bewirkt. Die Frequenzbereiche, in denen die schallabsorbierende Eigenschaft des Teppichs zum Tragen kommt, liegen sowohl im unteren (ca. 125 bis 250 Hz), im mittleren (ca. 500 bis 1000 Hz) als auch im oberen (ca. 2000 bis 4000 Hz) Frequenzbereich. Obwohl beim Sprechen die schallenergiereichen Anteile vorzugsweise im mittelfrequenten Bereich liegen, verbessert in sprachlich genutzten Räumen ein linearer Höreindruck ohne ausgeprägte Ge wichtung von Frequenzbereichen oder Klangverfärbungen die akustische Qualität. Die gleiche konstruktive Lösung gewährleistet auch im zehn Meter hohen Designstudio im ersten Obergeschoss sowie in den Seminarräumen und den offenen Arbeitsbereichen im darüber liegenden Geschoss eine angemessene raumakustische Bedämpfung. Im Auditorium sind zusätzlich die umgebenden Glaswände leicht nach innen  geneigt, um die reflektierenden Schallwellen gezielt umzulenken. Auf diese Weise finden nicht nur die Direktschallanteile den Weg vom Mund des Redners zum Ohr des Zuhörers, sondern dieser nimmt zusätzlich frühe Reflexionen von der Sichtbetondecke und den verglasten  Wänden wahr, welche die empfundene Sprachverständlichkeit weiter verbessern und somit die Hörbarkeit insgesamt unterstützen. Befinden sich mehr als 100 Personen im Auditorium, empfehlen die Fachplaner eine elektroakustische Verstärkung des Redners, wobei diese Notwendigkeit stets auch davon abhängt, wie deutlich der Vortragende seine Rede artikuliert.

Herausforderungen an die Fachplaner

Auch wenn die raumakustische Lösung bei dem Gebäude der Zollverein School auf den ersten Blick ganz simpel und unkonventionell erscheint, so darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass die vorgefundene Situation für die Fachplaner eine große Herausforderung war. An der Innenarchitektur mit den Gestalt prägenden Sichtbeton- und Glasflächen war nicht zu rütteln, weshalb nur der Rückgriff auf die Fußbodenfläche blieb, um den Nachhall auf das notwendige Maß zu begrenzen. Zu dem Zeitpunkt, als die  Fachingenieure einbezogen worden waren, wäre es bestenfalls noch möglich gewesen, die stark reflektierenden Sichtbetonflächen mit dämpfenden Materialien zu belegen. Gegen diese Idee sprach jedoch die stringente Architektursprache des Betonwürfels mit seiner von 134 Fenstern durchlöcherten Fassade, die außen wie innen gleichermaßen erlebbar sein sollte.  Hätten die Architekten jedoch anstatt der glatten Betonhaut eine eher strukturierte  Betonoberfläche gewählt, wären die Reflektionen an den Sichtbetonflächen deutlich geringer ausgefallen. Eine solche Variante wurde beim Bau des Katholischen Gemeindezentrums in  Köln Blumenberg verfolgt, dem letzten Entwurf aus der Feder von Heinz Bienefeld, der kurz nach der Wettbewerbsentscheidung verstarb. Die auf seinen Sohn Nikolaus Bienefeld übertragene Detailplanung sah vor, den zu erwartenden Reflektionen an den Sichtbetonwänden der Kirche durch Scharrieren und Spitzen der Oberflächen zu be gegnen. Mit Erfolg, denn die Nachhallzeiten in der Kirche hatten sich auf diese Weise hörbar reduziert, ohne dass die homogene Gestalt der Betonoberfläche darunter gelitten hätte. Ein vergleichbarer Effekt stellt sich ein, wenn dem Beton kleine Tonkügelchen beigemischt werden und die Oberflächen danach sandgestrahlt werden. Die Tonkügelchen brechen bei dem künstlichen Sandsturm auf und platzen ab, was dem Sichtbeton ebenfalls eine poröse Struktur verleiht. Zudem verbessert sich durch die eingebundenen Tonkügelchen der Wärmeschutz.

Die eigentlichen Resonatoren sind vom Raum aus nicht zu sehen

Auf eine andere, ausgefeiltere Technik griff Gottfried Böhm bereits in den späten 1960er-Jahren bei der Wallfahrtskirche Maria Königin des Friedens in Neviges zurück. Anstatt die Sichtbetonoberflächen anzukratzen, integrierte er so genannte Helmholtzresonatoren in die Betonwände, die den Schall besonders im tieffrequenten Bereich absorbieren. Das Volumen dieser Resonatoren verengt sich zum Raum hin in einen flaschenförmigen Hals, der die Schallwellen aus dem Raum aufnimmt und in dem Resonator verschluckt. Welche Frequenzbereiche genau absorbiert werden, hängt davon ab, wie groß das Volumen des Helmholtzresonators gewählt wird und wie der Flaschenhals geformt ist. Die eigentlichen Resonatoren sind vom Raum aus nicht zu sehen – einzig die Öffnung des Flaschenhalses zeichnet sich als kleiner schwarzer Kreis auf der Sichtbetonwand ab. Beton, die graue Eminenz unter den Baustoffen, muss sich also nicht schüchtern hinter Bekleidungen verstecken, um den raumakustisch oft komplexen Belangen gerecht zu werden. Das gleiche gilt auch für alle anderen schallharten Oberflächen, sei es Glas, Metall oder Mauerwerk. Dominieren sie die raumbegrenzenden Flächen von Vortrags- oder Konzertsälen, liegt es einzig in der Hand des Planers, bei der raumakustischen Planung rechtzeitig gegenzusteuern -  sei es durch Materialwechsel, Ausformung beziehungsweise Strukturierung der Oberflächen oder durch das Schaffen anderer absorbierender Ausgleichs flächen, wie bei der Zollverein School geschehen.


Gernot Kubanek, Klaus Siegele

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