betonprisma 87: Glaube
Ohne das Licht ist das Sakrale nicht zu denken
Christian Welzbacher: Glaube
„Geheimnis des Glaubens“ lautet die stehende Wendung in der katholischen Liturgie, die der Pfarrer in der Messe ausruft. „Glauben heißt: nichts wissen“, hat meine Großmutter immer gesagt, wenn ich als Kind Ausreden dafür erfand, dass ich dreckig oder zu spät nach Hause kam und meine hilflosen Erklärungsversuche mit der Wendung „Ich glaube…“ begann.
Die Kirche und der Volksmund – allem Anschein nach haben beide ein ganz ähnliches Verhältnis zum Glauben. Beide gestehen ihm eine durch und durch mystische Komponente zu: ein „mysterium fidei“, das sich dem Wissen, der konkreten Beweiskraft, entzieht. Das habe ich zwar als Kind noch nicht ahnen können, aber ich bin mir fast sicher, meine Oma hätte auch diese Erklärung nur als Ausrede eingestuft.
Wie bringt man das „Geheimnis“ in die Architektur, der logischsten, rationalsten, am stärksten zweckgebundenen unter den Künsten? Die Frage haben viele Baukünstler auf der ganzen Welt ähnlich beantwortet: indem man die Bodenständigkeit der Architektur unterläuft, die Statik auflöst, der Tektonik trotzt – durch Licht. Licht löst die Massivität von Wänden auf, bringt Mauern und Baukörper zum Schweben, schafft Plastizität und Atmosphäre. Die Strahlen der Sonne, die – gebündelt, gelenkt und gefärbt – in den umbauten Raum eindringen, verändern unsere Wahrnehmung. Aber eben nicht allein die Wahrnehmung des Raumes, sondern auch die Wahrnehmung des eigenen Körpers. Genau hier liegt wohl die elementare Erfahrung, die jeder Mensch macht, wenn er eine Kirche betritt. Sicher: auch die Höhe des Raumes, sein besonderer Baustil, die dynamischen Zugkräfte zum Altar haben ihre Wirkung. Aber ohne die Inszenierung des Lichts ist der Sakralbau nicht zu denken.
Theologen, Philosophen und Historiker haben sich mit der Deutung dieses großen Themas auseinandergesetzt, das seit dem hohen Mittelalter – also seit der Auflösung der Wand durch das „gotische“ Konstruktionsprinzip – zu einem wichtigen Leitmotiv geworden ist. Sie haben dem Licht der Kathedralen symbolische Funktion zugewiesen, es als „Abglanz des Göttlichen“ bezeichnet. Es ist der sprichwörtliche Funke, der auf den Gläubigen überspringen soll, um die Erleuchtung zu bringen. Wie sich die Kirche den Vorgang vorstellt, zeigen viele Gemälde, etwa die Werke Caravaggios, auf denen Lichtbündel aus dem Dunkel hervorbrechen und in sagenhafter Weise auf auserwählte Personen treffen – als Zeichen ihrer Bekehrung. In zahlreichen religiösen Bildern reißen Wolken auf, gleißende Strahlen überfluten die Szenerie: immateriell, mit Händen nicht zu greifen, aber doch konkret und für jedermann sichtbar. Erst das Licht scheint den Dingen ihre Form und ihren Sinn zu verleihen, wie in einem Akt der göttlichen Beseelung.
Geheimnis des Glaubens – Geheimnis des Lichts
Es verwundert also kaum, dass „Licht“ im Kirchenbau der Moderne bis heute zentrales Thema geblieben ist, wie drei Beispiele zeigen sollen. Da gibt es zunächst die geheimnisvollen Räume des Baumeisters Dominikus Böhm. Schon in den zwanziger Jahren propagierte er den Einsatz neuer Materialien, wie den Beton, den er mit geradezu entwaffnender Offenheit präsentierte. In der Christkönig-Kirche in Mainz-Bischofsheim etwa, 1926 geweiht, erreicht er die Steigerung der Raumwirkung zum Altar hin durch eine fast barocke Verschachtelung raumhoher Betonbögen: Die frivole Demonstration konstruktiver Möglichkeiten, die zeitgenössische Betrachter wohl eher an die Ästhetik der Maschinenhalle erinnern musste, nutzte Böhm zum Lobe Gottes. Aber ohne das Licht hätte der Beton keine Wirkung. Die Düsternis des Raumes, die fast an romanische Dome erinnert, schafft ein Timbre, in dem jeder einzelne Strahl zählt. Böhm durchfensterte die Seitenwand des Chorraumes (für den eintretenden Besucher unsichtbar) und lenkte von hier aus Sonnenlicht zum Altar – auf dem Weg dorthin durchdringt es die Betonbögen wie einen Vorhang: die raue Oberfläche beginnt zu leben, die Bögen scheinen zu schwingen, das Gotteshaus strahlt von innen heraus.
Das zweite Beispiel ist ungleich bekannter: die kleine Wallfahrtskirche „Notre Dame du Haut“, die Le Corbusier 1955 auf einem Hügel über dem Vogesendorf Ronchamp errichtete. Beim Besuch vor Ort bekommt man den Eindruck, Corbusier habe den Raum nur deshalb umbaut, um dem Licht eine angemessene Bühne zu bereiten. Berühmt sind die rechteckigen Fenster, deren schräge Laibungen die südliche Außenwand perforieren. Oft übersehen wird ein anderer Trick des Architekten. Während die Mauern des Bauwerks weiß gefaßt sind, wirkt der Rohbeton des pilzförmigen Daches grob und schwer – als wären an diesem skulpturalen Bau oben und unten vertauscht worden. Doch beim Eintreten löst sich der irritierende Effekt auf, die Decke, die bauchig in den Kirchenraum hängt, schwebt wie eine graue Wolke am Himmel. Denn zwischen Wand und Decke hat Corbusier einen durchlaufenden Schlitz eingefügt, durch den Tageslicht ungehindert eindringt. Es unterspült den Beton, verleiht ihm Glanz und verwischt die Grenzen der Tektonik.
Das letzte Beispiel dieser Reihe ist die „Kirche des Lichts“, die der Minimalist Tadao Ando 1989/90 in dem japanischen Ort Ibaraki errichtet hat. Ando wurde zu Beginn der achtziger Jahre mit zahlreichen Sichtbetonbauten berühmt und feierte mit dem Konferenz- und Tagungshaus des Vitra Design-Museums in Weil am Rhein seinen Durchbruch in Europa. Seither gilt er als Meister des meditativen Raumes, der ausgewogenen Proportion, der klaren, reinen, nüchternen Form. Nach diesen Prinzipien funktioniert auch die „Kirche des Lichts“, ein unspektakulärer Würfel aus schalungsrauem Sichtbeton, dessen Rödellöcher wie kleine, konstruktionsbedingte Bauchnabel wirken. Die Altarrückwand hat er gleichsam aufgeschlitzt, einmal vertikal, einmal horizontal, bis an Fußboden, Decke und Seitenwände, sodass ein monumentales „Lichtkreuz“ entsteht. Mit dieser Idee fand Ando eine beeindruckend zeitgemäße Lösung für jene Lichtmetapher, die seit Jahrhunderten das Geheimnis des Glaubens prägt. Das „mysterium fidei“ blendet und erweckt den Gläubigen, es strahlt in den Raum, als verfüge der Altar über eine Standleitung zu Gott, von der die versammelte Gemeinde jederzeit Gebrauch machen könnte.
Licht im Moscheenbau
Wenn ich zu Beginn behauptet habe, Licht und Glaube seien auch in anderen Kulturen jenseits des Abendlandes gängige Verbindungen, die in der Architektur anzutreffen seien – bisher aber, schon aus Gründen der Vergleichbarkeit, nur Kirchen benannt habe – so will ich an dieser Stelle das Beispiel einer ungewöhnlichen, gleichwohl berühmten Moschee anführen, um zu zeigen, wie der moderne Islam mit dem Licht umgeht. Nun ist eine Moschee nicht mit einer Kirche zu vergleichen. Sie ist ein Versammlungshaus, in dem man sich zum beten trifft – kein sakrales Bauwerk, dass Allah symbolisieren, seine Präsenz beschwören würde. Dieser Unterschied zu einem geweihten, christlichen Bau wird in der Raumform deutlich spürbar. Denn obwohl der Betsaal immer auf das geographische und ideelle Zentrum des Glaubens, Mekka, gerichtet ist, bleibt seine eigentliche Orientierung zentripetal, die ausgeglichene, oft fast meditative Raumwirkung entbehrt jeglicher dynamischer Zugkräfte.
Mit den Sakralbauvorstellungen des Abendlandes haben Moscheen also nichts zu tun – was freilich nicht bedeutet, dass islamische Architekten sich nicht immer wieder mit Kirchen auseinandergesetzt hätten, wie etwa der legendäre türkische Planer Cengiz Bektaº. Er hatte in den fünfziger Jahren in München studiert und konnte bei diesem Aufenthalt einen guten Überblick über die christliche Sakralarchitektur gewinnen. 1964 bekam er den Bauauftrag für eine Moschee, die Etimesgut Camii in Ankara. Bektaº reduzierte die Bauaufgabe auf das Wesentliche: die Ausrichtung eines gemeinschaftlichen Betraumes gen Mekka. Darüber hinaus warf er jegliche Vorstellungen, wie eine Moschee auszusehen habe, über Bord. Er verzichtete auf Kuppeln und Minarette, keine Anspielung auf die grandiose osmanische Architektur, auf den Übervater Sinan und seine erhabene Süleymanye (die, wie auch die Blaue Moschee“, natürlich eine Architektur des Lichtes ist). Die Etimesgut Camii, ein Betonbau, ist im Äußeren streng kubisch und abweisend. Man würde sie wohl eher für einen trutzigen Bunker halten. Doch ihr Geheimnis erfährt nur derjenige, der sich ins Innere des Hauses vorwagt. Denn der kleine Betsaal wird durch eine subtile Lichtregie bestimmt, für die sich Bektaº bei jenen Tricks bediente, die er im christlichen Sakralbau gesehen haben könnte. Zwischen die geknickten Außenwände und – beinahe wie bei Corbusier – unterhalb der schweren Dachplatte fügte er Schlitze ein, um das Licht nach innen zu lenken und den Raum zum Schweben zu bringen.
Licht als Metapher für das, was wir nicht wissen können
Geheimnis des Glaubens – Geheimnis des Lichts. So, wie sich eine Generation junger Architekten auf Cengiz Bektaº bezieht und Moscheen von kubisch-kantiger Klarheit errichtet, so gibt es im Abendland eine Reihe von Planern, die die Tradition von Böhm, Corbusier und Ando in einen zeitgemäßen Kirchenbau überführen. Das Licht als künstlerisches Mittel ist in beiden Kulturen und Religionen – dem Christentum wie dem Islam – eines der wichtigsten gestalterischen Mittel. Sei es, um den Raum, in dem sich Gläubige treffen, aus dem Alltag zu entrücken. Sei es, um dem Glauben, der die Gemeinschaft an dieser Stelle zusammenführt, eine Metapher für das zu bieten, was sie nicht wissen können. Vielleicht ist es ja sogar so, dass sich in diesem Punkt Religion und Architektur – oder besser: Baukunst – treffen: dass sie beide ihr letztes Geheimnis nicht preisgeben.
Buchtipp:
Christian Welzbacher
Euroislam-Architektur. Die neuen Moscheen des Abendlandes.
SUN, Amsterdam