betonprisma 96: Wohnen

Gegenseitiges Vertrauen ist Voraussetzung für gutes Wohnen

Luigi Snozzi über das Dorf Monte Carasso, die Stadt und das Wohnen

Den Gotthard oder San Bernardino queren, dann die Talebene und das südliche Tessin, die Seen und Italien erreichen. Da ankommen, wo Landschaft, Architektur und historische Stadt so harmonieren, als seien sie ein einziges großes Zuhause: Wärme, Wohlsein, Bei-sich-sein. Dieser Weg nach Süden führt, für die meisten unbeachtet, an Monte Carasso vorbei. Mit diesem kleinen Dorf, im nördlichen Tessin gleich westlich von Bellinzona gelegen, hat der Schweizer Architekt Luigi Snozzi schon vor Jahren nicht nur Planungs- und Architekturgeschichte geschrieben, sondern auch maßgebliche Akzente für den Wohnungsbau gesetzt.

Unsere Bilder von schönen Dörfern sind oftmals geprägt von Klischees, nicht zuletzt durch die alljährlichen Wettbewerbe, früher „Unser Dorf soll schöner werden“, heute „Unser Dorf hat Zukunft“: alleengesäumte Straßen, Fachwerkhäuser, rot eingedeckte Giebeldächer und Brauchtumsfeste. Monte Carasso ist ganz anders. Unser Spaziergang führt die den westlichen Berghang parallel verlaufende Hauptstraße entlang: alte und neue Ein und Mehrfamilienhäuser aus auffallend viel Naturstein und Sichtbeton, der Raum der Straßen und Gehwege eingefasst durch eine dichte Grenzbebauung, die kleinen Gärten sind von Einsicht verwehrenden Hecken und Mauern abgegrenzt. Die Seitenstraße links zum Zentrum öffnet den Blick auf ein großes freies Areal und die entfernt gegenüberliegende Wohnbebauung. Links das ehemalige Augustinerkloster. Es bildet mit einem altem Säulengang und modernen Erweiterungsbau aus Sichtbeton einen halboffenen Platz mit einer kleinen Bar. Daran angeschlossen die alte Kirche, weiter hinten ein Spielplatz, der Friedhof und schließlich eine Turnhalle und das Gemeindedepot, beide wieder in Sichtbeton. Am anderen Ende des Platzes ein auffällig hohes Wohnhaus: ein klar strukturierter, markanter vierstöckiger Kubus, eine Landmarke aus Sichtbeton. Luigi Snozzi plante es für den ehemaligen Bürgermeister Monte Carassos, Flavio Guidotti.

Alles folgt einer höheren Harmonie

Es ist Sonntag. Junge und alte Menschen gehen zur Kirche. Kinder spielen auf der Wiese Fußball, die Eltern sitzen auf den Stufen des Platzes und unterhalten sich. Wir setzen uns auf eine Bank, lassen den Blick schweifen. Hier ist etwas anders als in so vielen Dörfern oder Wohnquartieren städtischer Vororte, egal ob in der Schweiz oder in Deutschland. Aber was? Die Bebauung ist dicht, aber niemals eng. Gebäudelinien und -formen sind eher streng und reduziert. Es gibt viele Flachdächer, kaum ein Giebeldach. Man sieht nur wenige fahrende, kaum parkende Autos. Es gibt keine Geschäfte, nur eine Bank, die Bar und weiter hinten, an das Kloster angeschlossen, ein Restaurant. Es fällt auf, dass den Blick über den Platz auf die umliegende Bebauung einfach nichts stört. Alles scheint einer höheren Harmonie zu folgen. Hier fehlt, was man aus anderen Wohnquartieren nur zu gut kennt: die Dreiecke und Säulen, der fehlende Kontext auch zwischen benachbarten Bebauungen, die selbstgebastelten Carports. Warum sind die Menschen hier vor all dem gefeit? Wie haben es die Bürger von Monte Carasso geschafft, so schön wohnen zu dürfen?

Flavio Guidotti und Monte Carasso

Ein Besuch bei Flavio Guidotti, dem ehemaligen Bürgermeister von Monte Carasso. Der ältere Herr öffnet mit einem freundlichen Lächeln die Tür. Das Haus wirkt innen, anders als von außen gesehen, fast ein wenig klein. Die Fenster des im Erdgeschoss gelegenen Wohn- und Essbereichs sind an den von einer Mauer eingefassten Weingarten orientiert, im ersten und zweiten Stockwerk befinden sich die Schlaf- und Arbeitsräume, die Dachterrasse bietet einen weiten Blick auf das Dorf und die Berge. „Natürlich kommen viele Architekturstudenten hier her, die gerne auch mein Haus besichtigen dürfen. Manche sind ein wenig enttäuscht, wenn sie die einfache Einrichtung sehen. Aber wenn sie auf die Dachterrasse hinaufgehen und den Kontext verstehen, dann gefällt es allen“, sagt Flavio Guidotti fast entschuldigend bei der Führung durch das Haus.

Seit den 1970er Jahren, als man begann, die ersten Bauverordnungen im Tessin zu diskutieren, war Guidotti in der Kommunalpolitik tätig. Ob seines Engagements baten ihn die Bürger, das Amt des Bürgermeisters anzunehmen, das er dann 30 Jahre lang innehatte. In dieser Position hat er die Neugestaltung des Ortes gemeinsam mit dem Gemeinderat und dem Architekten Luigi Snozzi maßgeblich geprägt. Dabei sind ihm seine berufliche Erfahrung als Leiter des kantonalen Gesundheitswesens und sein diplomatisches wie zurückhaltendes Auftreten sicherlich zu gute gekommen. Beides ist heute noch zu spüren, wenn er über die Entstehungsgeschichte des Dorfes erzählt: Monte Carasso war ursprünglich ein Bauerndorf, das sich mit dem Wandel der Landwirtschaft nach und nach zum vorstädtischen Schlafort von Bellinzona entwickelt hatte. Man baute damals, wie es gerade passte. Erst in den 1970er Jahren wurden im Tessin Bebauungspläne und Bauverordnungen etabliert. Als Ende der 1970er Jahre eine neue Dorfschule gebaut werden sollte, begann ein Diskussionsprozess darüber, ob diese innerhalb des Ortes oder an der Peripherie gebaut werden solle. Gleichzeitig wurde überlegt, wie mit dem alten Kloster umzugehen sei, das nach der Bauverordnung hätte abgerissen und durch eine Wohnbebauung ersetzt werden sollen. Die Gemeinde besann sich damals, so erzählt Guidotti, auf die ursprüngliche Identität des Ortes und sprach sich für den Erhalt des Klosters aus. Die Restaurierung sollte nach dem Willen der Kantonsregierung durch einen möglichst erfahrenen Architekten erfolgen. Unter den Kandidaten für diese Aufgabe war auch Luigi Snozzi.

Luigi Snozzis Masterplan und neue Regeln
Snozzi präsentierte innerhalb nur eines Monats einen Plan: Zur Überraschung aller nicht nur, wie angefragt, für das Kloster, sondern einen Masterplan für den gesamten Ort: Mit dem Klostergebäude, das die Grundschule integrierte, wurde in einem ersten Schritt eine Begegnungszone und ein neues Zentrum geschaffen. Später hat Snozzi neben dem Friedhof die Turnhalle und das Gemeindedepot, dann an der Straße die Raiffeisenbank gebaut. Die Wohnbebauung wurde, um das Dreifache verdichtet, anschließend um das Zentrum geplant, so wie das Haus Guidottis. „Snozzi machte schöne Vorschläge, und die Gemeinde folgte stets seinem Rat“, resümiert Flavio Guidotti die 20-jährige Zusammenarbeit. Ein Prozess, der sicherlich nicht immer ganz einfach war. Als Snozzi anfangs gebeten wurde, seine Planungen von Beginn an mit der Bevölkerung abzustimmen, lehnte er dies ab. Er fange, so Snozzi damals, nicht mit der Bevölkerung an, sondern mit der Erarbeitung eines Planes. In ähnlicher Weise hartnäckig zeigte sich Snozzi im Umgang mit den Bebauungsregeln: Die damals gültigen wurden kurzerhand außer Kraft gesetzt und durch neue ersetzt. Die erste Regel besagte, dass sich jeder Eingriff mit der Struktur des Ortes konfrontieren müsse. Weil aber diese Regel für niemanden verständlich war – auch für einen Architekten nicht – wurde eine zweite definiert, nach der eine dreiköpfige Kommission von Spezialisten einzusetzen sei, die für die Struktur des Ortes verantwortlich zeichnete und alle beantragten Bauprojekte zu prüfen habe. Ein Mitglied der Kommission war Luigi Snozzi, die anderen beiden sollte er benennen. Da Snozzi die beiden anderen Mitglieder nicht ausfindig machen konnte, wurde eine weitere Regel definiert: Die Kommission solle nur aus einem einzigen Mitglied, nämlich Snozzi, bestehen. Diese Regel hatte den Vorteil, dass sie Kosten einsparte und sich gleichzeitig niemand der Verantwortung entziehen konnte. Darüber hinaus war sie insofern demokratisch, als alle Sitzungen öffentlich waren und die Gemeinde so mögliche Fehler der Kommission im Rahmen der Abstimmung korrigieren konnte. Guidotti dazu: „Was manche als Diktatur ansehen würden, war hier eine freiwillige Treue. Dieses Vertrauen unsererseits war auch für Luigi Snozzi von großem Wert: Als ihm die Gemeinde anlässlich des 30-jährigen Jubiläums der Revitalisierung des Dorfes die Ehrenbürgerschaft verlieh, hat Snozzi, der stets so rational und fachlich ist, für alle Mitglieder der Gemeinde sichtbar vor Rührung geweint.“ Sind sich die Bürger des Ortes heute noch dessen bewusst, welche Rolle Guidotti und Snozzi damals gespielt haben? Guidotti verneint: „Gerade die neu Hinzugezogenen sind sich der Hintergründe nicht immer bewusst. Aber sie wie auch ich sind mit der Entwicklung des Ortes sehr zufrieden. Damals haben wir genau das Richtige gemacht, und es verwundert mich manchmal, dass dieser Lösungsansatz nicht von anderen Gemeinden aufgegriffen wurde.“

Zu Besuch bei Luigi Snozzi
Die Landstraße von Monte Carasso führt Richtung Westen durch das Hinterland des Lago Maggiore nach Locarno, an zersiedelten Dörfern und kleineren Gewerbegebieten, Supermärkten und Gartencentern auf der grünen Wiese vorbei. „Jeder Eingriff bedingt eine Zerstörung. Zerstöre mit Verstand“, hat Luigi Snozzi einmal geschrieben. Nach dem Aufenthalt in Monte Carasso wird man sich seines Satzes eindringlicher bewusst. Das Büro von Luigi Snozzi liegt im Herzen von Locarno an einem kleinen Platz. Die Türe im ersten Stockwerk steht offen: So nett wie Luigi Snozzi können einfach nur alte und ganz kluge Männer lächeln. Die Einrichtung der Räume erinnert an Zeiten, die es heute nicht mehr gibt: keine Spur von Design, nur Bücher, Bücher, Bücher. Selbst der Tisch, an dem wir Platz nehmen für unser Gespräch, biegt sich unter Büchern.

Herr Professor Snozzi, wie kam es dazu, dass Sie, nach den öffentlichen Gebäuden in Monte Carasso, auch das Haus von Guidotti planen konnten?

Guidotti wollte damals ein Wohnhaus haben. Mein Reglement sah eine dreigeschossige Wohnbebauung vor, wie alle Häuser in Monte Carasso. Ich habe ihm ein viergeschossiges Haus geplant, was zu einem Skandal führte. Meine Idee war, das Haus der Bürgermeister zu bauen, nicht nur das für Guidotti. Es sollte ein öffentliches Gebäude werden. Außerdem brauchten wir für die neue Ringstraße um das Zentrum herum ein bauliches Zeichen. Das haben alle verstanden. Und so kam es zu der – nicht geschriebenen – achten Bebauungsregel: Wenn ein Projekt besser ist als die Regel, dann ändert man die Regel oder definiert eine Ausnahme. Diese Regel haben wir schon öfters gebraucht. Es gibt immer wieder Projekte, die sind gegen die Regel – aber eben besser.

Das Haus von Guidotti ist, wie viele Ihrer Wohngebäude, mit Sichtbeton gestaltet. Gibt es dafür einen besonderen Grund?

Die Entscheidung, Beton zu gebrauchen, hat verschiedene Gründe. Erstens, weil der Beton als Zeichen der schlimmen, der betonierten Stadt steht. Meine Arbeiten mit Beton waren also eine Reaktion auf diese Idee von Beton. Aber ich habe Beton auch deswegen gerne, weil er ein sensibles Material ist. Es ist schwierig, mit ihm gut zu arbeiten. Wenn sie eine Betonwand herstellen, müssen sie Acht geben auf das Holz, das sie verwenden, auf die richtige Temperatur bei der Verarbeitung. Man braucht Mühe, um es gut zu machen. Das gefällt mir. Und schließlich ist Beton das einzige Material, mit dem man ein Haus in einer vollkommenen Einheit herstellen kann – wie bei unseren alten Häusern, die aus Stein gebaut waren. Das Dach, die Wände, alles war aus Stein. Und schließlich ist Beton ein Material, mit dem man unglaublich viel machen kann. In Monte Carasso habe ich mich für das Material Beton entschieden, weil ich zu den alten Natursteinhäusern mit der Wahl des neuen Materials keine Annäherung an das Alte schaffen wollte. Ich wollte vielmehr mit einem neuen Material das Gleiche erreichen. Daher habe ich mich hier für den Sichtbeton entschieden. Und dann ist in Monte Carasso etwas geschehen, was es sonst nirgendwo gibt: Alle Bauherren haben dort mit Sichtbeton gebaut – und alle haben sich für Flachdächer entschieden. Es ist das einzige Dorf im Tessin, wo so gebaut wird. Es gibt keinerlei Regeln oder Bestimmungen diesbezüglich. Man muss kein Flachdach bauen in Monte Carasso. Es sind ganz freie Entscheidungen der Bauherren. Die Bauherren nehmen Bezug auf das, was ich gemacht habe. Es gibt für Monte Carasso keine Regel über die Sprache der Architektur. Die Menschen sind diesbezüglich vollkommen frei, sie können sich äußern wie sie wollen. In Monte Carasso ist es auch möglich, Kitsch zu machen. Es wird aber kein Kitsch gemacht.

Hat sich Ihr Selbstverständnis vom Bauen im Laufe der Zeit geändert?
Die Idee, das gleiche Material zu gebrauchen, ist immer da. Die Art, wie man ein Haus sieht, ändert sich natürlich mit der Zeit und mit der Erfahrung. Das heißt: die Art, wie man einen Ort versteht, das Verständnis eines Ortes. Dafür braucht man viel Erfahrung.

„Baust Du einen Weg, ein Haus, ein Quartier, dann denke an die Stadt!“, haben Sie einmal gesagt.

Für mich ist die Stadt die wahre Heimat für die Menschen. Nicht das Dorf. Das Dorf auf dem Land ist gut für die Kühe, nicht für die Menschen. Das sind ja ganz banale Dinge: Wenn man in einem Dorf wohnt, und es gibt dort ein Café, in dem sich eine unmögliche Person aufhält, dann geht man einfach nicht mehr in dieses Café. Dann muss man seinen Kaffee zu Hause machen. In der Stadt aber hat man die Wahl, sie gibt dem Menschen Wahlfreiheit. Die wahre Welt des Menschen ist also die Stadt – und nicht das Dorf. Das Wohnen steht immer in Bezug zu dem, was darum herum steht. Am Ende aber kommen wir immer wieder zur Stadt. Ein gutes Haus sollte immer in der Stadt sein.

Sie haben viele gute Häuser auch nicht direkt in der Stadt gebaut...
Auch die Hügel um Locarno gehören heute irgendwie zur Stadt. Die Idee von der Stadt umfasst heute mehr als die historische Stadt mit ihren Mauern. Man kann sagen, dass fast das ganze Tessin eine Stadt geworden ist.

Wenn jemand zu Ihnen kommt und wünscht sich ein Haus von Ihnen – wie gehen Sie vor, wie planen Sie?
Die schlimmsten Kunden sind die, die kommen und mir sagen, was sie genau wollen. Sie sagen: Ich kenne Ihre Architektur – ich möchte ein Haus für meine Familie und so weiter. Sie denken also schon eine Architektur. Die besten sind diejenigen, wie in Monte Carasso, die über Architektur überhaupt nichts wissen. Denn sie fragen wenig, stellen praktisch überhaupt keine Fragen über die Ästhetik der Architektur, aber sie stellen grundsätzliche Fragen: zum Beispiel, wie groß die Küche sein soll und wo und wie die Kinder wohnen sollen. Das sind die guten Fragen. Die lassen eine große Freiheit für die Sprache der Architektur. Es sind nur die Intellektuellen, die schwierig sind, weil sie denken, sie kennen alles.

Aber auch bei diesen Menschen müssen Sie deren Wünsche lesen...

Ich erinnere mich an eine alte Dame, die mit einen Haufen von Zeichnungen zu mir kam. Ich sollte ihr ein Haus bauen. Ich schaute mir an, was sie gezeichnet hatte und sagte: „Oh, Sie brauchen einen Architekten. Ich kann ihnen einen meiner Mitarbeiter geben, der ihre Pläne realisieren kann.“ Daraufhin ist sie gegangen. Nach Monaten kam sie wieder und fragte: „Warum können alle einen Architekten haben – nur ich nicht?“ „Wenn Sie so denken“, sagte ich, „kann ich Ihnen schon ein Haus bauen. Aber nur unter einer Bedingung: Wir werden uns streiten und es wird auch Fußtritte geben. Wenn sie das wollen, dann können wir anfangen“. Die Dame hatte ihre feste Meinung: Sie wollte ein Haus aus Holz, wollte Schrägdächer, ein Walt-Disney-Haus. Kein Beton, kein Stahl. Nach einiger Zeit hatte ich ihr ein Haus geplant – so wie immer: aus Beton, mit Flachdach, kein Holz nirgends. Es war der komplette Gegensatz von all dem, was sie sich gewünscht hatte. Die Dame kam in eine Krise. Sie kam noch oft zu mir, und jedes Mal hatte sie eine andere Meinung. Einmal kritisierte sie alles, ein andermal änderte sie alles. Ich spürte, sie war in einer schwierigen Situation. Letztlich haben wir das Haus so gebaut, wie ich es wollte. Von dem Moment an ging sie in die Bar des Ortes, um die Leute davon zu überzeugen, wie schön das Haus, wie schön der Beton ist. Ich hatte kein gutes Gefühl, weil ich fürchtete, ich hätte sie unterdrückt. Am Ende aber hat sie einen Brief geschrieben, der auch in einer Schweizer Architekturzeitschrift publiziert wurde. In diesem erzählt sie, welche Erfahrungen sie mit mir gemacht hatte. Das war interessant: Sie schrieb, dass sie Herrn Snozzi kennengelernt habe, der immer das Gegenteil von dem mache, was sie wolle. Später dann sei sie in einem Spital gewesen, wo sie drei Typen von Kranken kennengelernt habe: der erste, der auf keinen Rat hört und stets fragt, was in den Arzneimitteln enthalten ist. Der zweite Typus, der, ganz das Gegenteil des ersten, alles übernimmt. Wenn sein Bein schmerzt und der Arzt es amputiert, so ist es in Ordnung. Der dritte Typus schließlich ist der vernünftige Kranke: Er stellt die wichtigen und richtigen Fragen und überlässt dem Arzt alles andere. In Bezug auf mich schrieb sie weiter, dass sie am Anfang dem ersten Typus entsprochen habe. Dann habe sie versucht, dies zu ändern – und sei daraufhin der zweite Typ geworden, und schließlich, nach eineinhalb Jahren, sei sie zum dritten Typus geworden. Sie hat alle diese Erfahrungen gemacht. Das war ein fast zweijähriger Gesprächsprozess mit ihr gewesen. Für den Architekten ist es ein sehr anstrengender Prozess, die Menschen dahin zu führen, dass sie vertrauen können. Man ist mehr Priester als Architekt.

Was sagen Sie den jungen Studenten über das Bauen von Wohnhäusern?
Im ersten Jahr mache ich mit den Studenten ein Stück Stadt. Immer. Ich gebe ihnen zum Beispiel das Zehntel einer Stadt – und werfe sie damit in ein Meer. Aber die Resultate sind interessant. Am Ende des Jahres haben die Studenten verstanden, was eine Stadt ist und können endlich die Stadt lieben. Das ist für mich wichtiger, als ein einzelnes Projekt zu machen. Erst im Diplom gebe ich ihnen das Einfamilienhaus. Weil ich denke, das ist die schwierigste Aufgabe für einen Architekten überhaupt: Man muss sich konfrontieren mit der Idee der Stadt, mit der Frage, ob ein Einfamilienhaus die Möglichkeit der Antwort auf eine Stadt bietet. Das zweite ist das Programm eines Hauses. Es ist das komplizierteste Programm, das man haben kann. Weil jedes Haus anders ist als das nächste. Kinderzimmer, Elternzimmer, Küche, Bad und so weiter. Es gibt keine Wiederholung. Anders als bei einem Mehrfamilienhaus, wo man die Wiederholung für den Rhythmus benötigt. Das hat man beim Einfamilienhaus nicht. Und man hat beim Einfamilienhaus nur die ganz kleine Dimension zur Verfügung, um etwas zu gestalten.

Sie mischen sich ein – liefern auch schon einmal ganz unaufgefordert einen Entwurf, wie beispielsweise in Brissago. Wann mischen Sie sich ein? Was interessiert und bewegt Sie als Planer und als Architekt?

Ich bin insgesamt sehr pessimistisch geworden. Früher war ich optimistisch. Über die Welt, wie sie sich bewegt. Aber auch über die Architektur, wie sie sich bewegt. Ich bin sehr traurig über die Situation der Architektur heute. Das große Thema ist für mich immer die Stadt gewesen. Aber es gibt heute praktisch keine Architekten mehr, die sich mit der Stadt befassen. Jeder Architekt will sein Denkmal setzen. Man spricht immer viel von der Stadt – aber man macht wenig. Das tut mir weh. Die jungen Architekten werden es schwer haben. Wir sind vier. Aber schauen sie sich die Büros beispielsweise meiner Schüler an, teilweise mit 300 Angestellten. Das sind Fabriken geworden. Mit Architektur hat das wenig zu tun. Es sind immer die acht oder zehn Büros, die überall bauen.

Was raten Sie den jungen Architekten, wie sie damit umgehen sollen?
Schwierig. Sie sollen eine Stadt aufsuchen, die ihnen gefällt. Von der Stadt kann man lernen. Nicht vom Dorf. Nicht in der Heimat. Sie sollen weggehen in die Stadt. Das ist der einzige Rat. Sie können gerne in einem großen Büro arbeiten, für eine Zeit. Um zu verstehen, was man nicht machen muss.

Sie selbst wohnen in einer Mietwohnung?
Ich wollte nie ein eigenes Haus haben. Ich liebe es, Häuser für andere Leute zu bauen, aber nicht für mich. Ich liebe den See und das Meer. Mein Büro habe ich jetzt schon über 50 Jahre hier – obwohl mir die Stadt Locarno noch nie etwas zum Bauen gegeben hat. Ich bin hier, weil ich den See liebe. Ich bin Architekt und Fischer. Sei auf dem See, sei auf dem Meer. Das gefällt mir sehr. Darum gehe ich oft nach Alghero in Sardinien, weil ich das Fischen auf dem Meer liebe. Da habe ich die Möglichkeit, ein oder zwei Tage zu unterrichten und ein oder zwei Tage fischen zu gehen. Große, 30 bis 40 Kilogramm schwere Fische.

Herzlichen Dank für das Gespräch.


Fast das ganze Tessin ist heute eine Stadt geworden. Fährt man den kurzen Weg die westlich von Locarno gelegenen Berge hinauf nach Tegna, ein kleines altes Dorf an der Peripherie, so findet man die Casa Gobbi. Die Bauherrin, Silvia Gobbi, betrieb in Tegna gemeinsam mit ihrem Vater das Restaurant Centovalli. Luigi Snozzi pflegte hier ab und an mit seinen Studenten zu essen und dabei über Architektur zu sprechen. Das weckte ihre Neugierde, und so entstand Silvia Gobbis Wunsch, ein eigenes Haus haben zu wollen – gebaut von Luigi Snozzi. Sie fand ein Grundstück an einem steilen Hang am Rand des Dorfes und bat Snozzi, hier ihr neues Wohnhaus zu planen. Er zauberte ihr eins: Unauffällig, fast versteckt an der Straße gelegen, ganz in Sichtbeton gehalten, in die Landschaft und aus der Landschaft gewachsen zugleich. Und mit atemberaubendem Blick. Sie habe, erzählt Silvia Gobbi, in den ersten Jahren nach dem Einzug nur und nur diesen Blick vom Wohnzimmer aus in diesen großen Raum genossen, in dem Kultur und Natur, Architektur und Landschaft so einzigartig zu einem großen Zuhause miteinander verschmelzen.


Luigi Snozzi, geboren 1932, studierte Architektur an der ETH Zürich. Bereits ein Jahr nach Abschluss des Studiums eröffnete er sein erstes Büro in Locarno. Snozzi lehrte an der ETH Zürich, der Architekturfakultät der Universität Genf, der École Polytechnique Fédérale Lausanne und der Architekturfakultät der Universität Triest, seit 2002 an der Architekturfakultät der Universität Alghero (Sardinien). U.a. ist er Ehrenmitglied des Bundes Deutscher Architekten, des Schweizerischen Ingenieur- und Architekten-Vereins sowie der Bayerischen Akademie der Schönen Künste.

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