betonprisma 109: Ideen

Auf der Suche nach neuen Möglichkeiten der Architektur

Ein Gespräch mit Patrik Schumacher

Patrik Schumacher, 1961 in Bonn geboren, studierte ab 1980 Philosophie und Mathematik an der Universität Bonn und an der London South Bank University, später Architektur an der Technischen Universität Stuttgart, wo er 1990 mit dem akademischen Grad Diplom-Ingenieur abschloss. 1999 wurde er am Institut für Kulturwissenschaften an der Universität Klagenfurt in Philosophie promoviert. Schumacher arbeitete von 1988 bis 2016 eng mit Zaha Hadid zusammen, seit 2002 ist er Partner des Büros Zaha Hadid Architects, das er heute leitet. 2006 war er Gründungsdirektor des AA Design Research Lab (AADRL).

Herr Schumacher, auf Ihrer Seite patrikschumacher.com weisen Sie unter „writings – theorizing architecture“ mehr als 160 von Ihnen von 1989 bis heute verfasste Bücher und Aufsätze aus, davon allein 16 in den beiden letzten Jahren. Was treibt Sie an, so viel zu publizieren? Und wie nehmen Sie sich die Zeit, in Ruhe schreiben zu können?
Patrik Schumacher: Unsere Entwurfsarbeiten und Gebäude werden ja auch viel publiziert, aber zu häufig missverstanden. Für mich ist es wichtig, die Motivation und Rationalität unserer Arbeiten zu erläutern. Die sind nicht immer wortlos offensichtlich. Dazu bedarf es oft weiter ausholender Erklärungen und Argumente, die unsere Architekturkonzepte und Entwurfsmethoden in einen geschichtlich-gesellschaftlichen Zusammenhang bringen. Ich möchte präzisieren, wie unsere Architekturauffassung mit den ökonomischen, gesellschaftlichen und urbanen Entwicklungsdynamiken harmoniert. Die Zeit dazu finde ich am Wochenende – und im Flugzeug. Ein wichtiges Bindeglied zwischen professioneller Arbeit und der Reflexion in Artikeln und Büchern sind meine Vorlesungen; in den letzten zwei Jahren waren es mehr als 100.

Der älteste auf Ihrer Seite ausgewiesene Beitrag von 1989 trägt den Titel „Education for a Democratic Society“. Sie befassen sich hier mit der gesellschaftlichen Rolle der Schule: Sie sei ein wichtiger Faktor bei der Universalisierung einer gemeinsamen Diskurskultur – und daher solle der Unterricht antiautoritär sein. Sie fordern unter anderem den Verzicht auf Noten, Prüfungen und Zertifikate. Was treibt einen Architekten dazu, über Schule und Wissensvermittlung nachzudenken?
Als ich „Education for a Democratic Society“ schrieb, war ich ja selbst noch Schüler beziehungsweise Student. Doch zu meinen Argumenten von damals – auf der Basis von Habermas – stehe ich auch heute noch. Diskurs und Macht beziehungsweise Selektion schließen sich aus. Ich lebe diese Philosophie auch als Lehrer, seit mehr als 25 Jahren. Noten sind vielleicht in Grundschulen sinnvoll, was ich aber nicht beurteilen kann. Doch in Hochschulen ergeben sie keinen Sinn. Bei mir, in meiner Schule, dem AA Design Research Lab, gibt es nur „pass“ oder „fail“, und immer für die ganze Gruppe – ausnahmsweise auch einmal eine „distinction“. Es herrschen hier also bis zu einem gewissen Grad doch Macht und Selektion, um der verpflichtenden Vorgabe der Institution und der staatlich oktroyierten Lizensierung Genüge zu tun. Als Arbeitgeber schaue ich aber nie auf die Noten, auch nicht auf Zeugnisse. Zaha und Rem hatten ja auch jahrelang keinen Abschluss. Ich selbst hatte auch schon mehrere Jahre bei Zaha gearbeitet, bevor ich meinen offiziellen Hochschulabschluss machte. Zertifikate und Noten sind bedeutungslos. Ich schaue auf die Arbeiten und diskutiere mit den Kandidaten.

Was hat das dann vielleicht doch mit Architektur zu tun?
„Education for a Democratic Society“ war ein Essay zu einer parallelen Entwurfsarbeit. Inzwischen haben wir auch Schul- und Universitätsgebäude entworfen, in London, Oxford, Wien, und Hongkong – als Orte für einen offenen Diskurs.

Ihr aktuellstes und sicherlich wichtigstes Werk ist „The Autopoiesis of Architecture, Vol. 1: A New Framework for Architecture“ und Vol. 2, „A New Agenda for Architecture“, veröffentlicht 2012. Warum brauchen wir eine „neue“ Agenda für die Architektur?
Ich arbeite gerade an Band 3, „A New Practice for Architecture“. Die neue Agenda ist hier, Architektur als Kommunikation ernst zu nehmen, und zwar unter den neuen Voraussetzungen der sozialen Komplexität, Vielfältigkeit, Dynamik und Verdichtung in den Zentren unserer postfordistischen Netzwerkgesellschaft. Die Kernaussage und Leistung von Band 2 ist die Neuauflage der Architektursemiotik unter funktionalen Gesichtspunkten wie Navigation und sozialer Situationscharakterisierung. In Band 3 werde ich zeigen, wie diese architektonischen Kommunikationsleistungen mittels agentenbasierter Simulationen der sozialen Nutzungs- und Kommunikationsprozesse vergleichend getestet, gemessen und optimiert werden können. Ein entsprechendes Forschungsprojekt läuft seit drei Jahren.

Welche Rolle spielt hier der von Ihnen entwickelte Begriff des Parametrismus? Und was meint er genauer?
Parametrismus ist hier, wie bei allen meinen Arbeiten, als der neue epochale Stil des 21. Jahrhunderts vorausgesetzt, als die Antwort der Architektur auf die neuen Möglichkeiten und Herausforderungen unserer computerbasierten Zivilisation. Obwohl die Grundeinsichten meiner Architektursemiotik auch unabhängig von den neuen formalen Ausdrucksmöglichkeiten des Parametrismus gelten, würde ein Verzicht auf sie eine illegitime funktionale Einschränkung bedeuten. Die Überlegenheit des Parametrismus ist schon aus rein technischen Gründen evident. Nur er erlaubt es Architekten, die neuen ingenieursmäßigen Optimierungsverfahren voll zum Tragen zu bringen. Die kongeniale architektonische Aufnahme dieser technisch optimierten Morphologien hat, bei gleichzeitigen organisatorischen Freiheitsgraden, in den letzten zehn Jahren zu der neuesten Spielart des Parametrimus geführt, die ich Tektonismus (tectonism) nenne. Der Tektonismus ist also der gegenwärtig aktuelle Substil des Parametrismus, so wie zum Beispiel Brutalismus ein Substil des Modernismus war. Foldism, Blobism und Swarmism waren vorgängige Spielarten des Parametrismus. Der Tektonismus hat gegenüber anderen Architekturstilen – auch im Vergleich mit den vormaligen Spielarten des Parametrismus – eine größere Vielgestaltigkeit, Kohärenz und Expressivität, die der Architektursemiotik sehr zugute kommt.

Sie haben diesen Begriff erstmals auf der Architekturbiennale in Venedig 2008 eingeführt: In „Parametricism as Style – Parametricist Manifesto“, 2015/2016, schreiben Sie dann über den „Parametricism 2.0“. Warum 2.0?
Der Parametrismus als Architekturbewegung hat in den letzten zwanzig Jahren enorme Fortschritte gemacht, vor allem in Bezug auf technische Kriterien. Darauf hatte sich die Bewegung konzentriert. Statische Optimierung, Optimierung in Hinsicht auf klimatische Adaption von Architektur-Morphologien und die Optimierung mit Blick auf neue Konstruktionsmethoden standen im Vordergrund. Die sozialen, organisatorisch-funktionalen Vorteile und Fortschritte sind ebenfalls da, aber schwerer zu vermitteln und zu beweisen. Da gibt es viele Missverständnisse und Skepsis. Das liegt auch daran, dass die meisten Protagonisten des Parametrismus, inklusive Tektonismus, eher technisch orientiert arbeiten und sich nicht direkt, explizit mit dem sozialen Funktionieren von Gebäuden auseinandersetzen. Ich habe deshalb eine Reorientierung der Bewegung gefordert, weg von einer ausschließlich technischen und hin zu einer sozialen und gesellschaftlichen Orientierung – allerdings ebenfalls wissenschaftlich fundiert und mit algorithmischen Entwurfs- und Optimierungsverfahren ausgerüstet. Mein Forschungsprojekt „Agent-based Parametric Semiology“ ist ein praktischer Beitrag dazu. Die notwendige theoretische Vorarbeit habe ich mit „The Autopoiesis of Architecture“ sowie mit „Parametricism 2.0“ geleistet. Ich bin davon überzeugt, dass nur diese notwendige und sinnvolle strategische Reorientierung dem Parametrismus zum globalen Durchbruch verhelfen kann.

Die Idee des Parametrismus als neuer Stil wurde in der Architekturdiskussion auch kritisch betrachtet. Fehlt es Ihnen hier an Diskursivem und Dialogischem? Sind wir neuen Ideen gegenüber nicht offen genug?
Das Problem liegt zum einen in der oben bezeichneten technischen Orientierung des Parametrismus. Wir brauchen eine neue Garde von Protagonisten, welche die bisherigen technischen Errungenschaften zwar annehmen und voraussetzen, doch ihre Entwurfs- und weitere Forschungsarbeit sowie ihre Ambitionen jetzt vor allem auf gesellschaftliche Problemlagen und Anforderungen hin zuschneiden. Das bedeutet auch, dass unsere Disziplin nicht nur mehr intuitive „Künstler“ oder „Ingenieure“ anziehen sollte, sondern auch Talente, die sich zurzeit vielleicht eher in den Sozialwissenschaften verorten. Architektur kann eine intellektuell sehr spannende, anspruchsvolle Disziplin sein, eingeklinkt in Reformprozesse, mit Blick auf den ökonomischen und gesellschaftlichen Fortschritt.
Ich möchte nicht arrogant klingen, aber es fehlt unserer Disziplin weitgehend an einer den Aufgaben entsprechenden Diskursfähigkeit. Architekturtheorie muss auf Gesellschaftstheorie aufbauen. Das intellektuelle Niveau des Diskurses in der Architektur muss steigen, sonst bleiben Werke wie „The Autopoiesis of Architecture“ ohne Resonanz und ohne kritische Anknüpfung und die Bewegung des Parametrismus missverstanden und marginal.

Sie haben bis 2016 gemeinsam mit Zaha Hadid und ihrem Team, heute mit Ihrem Team, unter Berücksichtigung parametristischer Maximen, ganz großartige Gebäude geplant und realisiert. Denken wir an das Kunstmuseum MAXXI in Rom von 2010, an das Library and Learning Center in Wien von 2014, an die Dongdaemun Design Plaza in Seoul von 2013. Wie sind die Ideen zu diesen Gebäuden entstanden? Können Sie einen Ideenfindungsprozess für eines dieser Gebäude detaillierter beschreiben?
Das Design von MAXXI nahm seinen Ausgangspunkt von der Geometrie des unmittelbaren städtischen Kontexts. Am Standort treffen sich zwei urbane Rasterrichtungen, die beide  in das Grundstück hineingezogen wurden. Die resultierende Winkeldivergenz von 51 Grad wurde mittels Kurven vermittelt. Das zweite, entscheidende Gestaltungskonzept war die Einführung eines starken, rigorosen Formalismus: des Formalismus der Streifenbildung mit parallelen Linien, die sich biegen, verzweigen, bündeln oder auch manchmal kreuzen. Diese Linien wurden später als Wände, Balken und Rippen sowie als Treppen und Lichtleisten interpretiert.
Dieser Formalismus erlangte besondere funktionale Bedeutung, indem er die wesentliche funktionale Substanz des Museums aufnahm: die endlose Wand, die überall als potenzielle Ausstellungsfläche verstanden wurde, als grundlegende raumbildende Substanz des Projekts. Die Gestaltung erfolgt also über die Durchziehung des Geländes mit Ausstellungswänden. Die Wände verlaufen meist parallel. Die Richtungswechsel werden als Chancen genutzt, den Abstand zwischen ihnen zu verändern, wobei die Parallelität jederzeit erhalten bleibt. Die unterschiedlichen Richtungen vermitteln nach außen eine Einbettung und im Inneren generieren sie auch die Möglichkeit, Wände zu überschneiden und damit Akzente zu setzten. An den Überschneidungspunkten haben wir dann jeweils Vertikaldurchbrüche platziert. Das ist regelbasiertes Entwerfen.

Das Spiel paralleler Wände, ergänzt durch verzweigte und sich kreuzende Wandbahnen, erzeugt sowohl Innen- als auch Außenräume.
Das Spiel der Wände funktioniert auf drei Hauptebenen. Dies impliziert, dass einige von ihnen statisch als weitgespannte Träger oder als weitreichende Ausleger fungieren. Ein Satz Wände nimmt eine abfallende Bahn, die eine terrassierte Galerie im Inneren erzeugt. Die Wände erlauben breite Öffnungen, so dass lange tiefe Staffelungen entstehen. Zwischen ihnen nehmen Anordnungen von Rippen am gesamten laminaren Linienfluss teil und akzentuieren so die Direktionalität der Galerieräume. Diese Rippen strukturieren die Glasdächer, die das natürliche Licht in allen Galerieräumen filtern. Ein Kontinuum korrelierter Architekturelemente wird hergestellt: Wände, Balken und Rippen. Alles verbindet sich mit dem Formalismus linearer, strömender Elemente. Dies betrifft auch die Rampen und Treppenhäuser und damit letztendlich den Kreislauf des Publikums. Alles fließt, es gibt keine geschlossenen Räume oder Zellen, es sei denn die Kuratoren etablieren sie mittels eingestellter oder abgehängter temporärer Wände. Die entscheidenden Themen sind hier zum einen die urbane Anverwandlung und Einbettung und zum anderen die Dialektik von Kontinuität und Differenzierung in kontinuierlich differenzierte Felder. Der Parametrismus ersetzt den modernen Raum- mit dem parametrischen Feldbegriff – in Analogie zu Magnetfeldern. Hier gibt es keine Leere, sondern eine Fülle, die mittels eines graduell strukturierten Mediums zoniert und orientiert wird. Das erlaubt eine größere Ausdifferenzierung von Zonen und Situationen sowie graduelle Übergänge und Zwischenbereiche – immer mit simultaner Bewegungsfreiheit und orientierender visueller Antizipation. Die Ambition bestand darin, mitzuhelfen, das soziale Ereignis der Kunstaustellung in einem neuen räumlichen Rahmen auf ein neues, zeitgemäßes, sozial-funktionales Niveau zu heben.

Welche Rolle spielt neben Computerprogrammen und Algorithmen der Mensch, der Architekt, das Team – der Mensch Patrik Schumacher und seine Ideen?
Die forschungsleitenden Ideen, die dann auch zu entwurfsanleitenden werden, sind natürlich entscheidend. In einem kritischen, theoretisch angeleiteten Forschungsumfeld müssen allerdings nicht alle Mitarbeiter in gleicher Weise theoretisch argumentieren. Hier kann man auch intuitiv vorgehen. Was die Proliferation von formalem Material anbelangt – mit oder ohne Algorithmen –, so ist hier die Intuition auch heute noch fast unersetzbar. Allerdings müssen wir unsere Intuitionen jeweils auch kritisch hinterfragen. Wenn sie die kritische Anfrage bestehen, dann lassen sie sich alsbald auch algorithmisch operationalisieren. Doch bleibt diese sukzessive algorithmische Operationalisierung bisher – und auch in vorhersehbarer Zukunft – partiell und unbedingt in ein reflektiertes Œuvre eingebunden, angeleitet von einer theoretisch fundierten Idee und Strategie. Der Mensch Patrik Schumacher ist hier eine noch unersetzbare, im Sinne von Heinz von Foerster nicht-triviale historische Maschine.

Das MMM Corones ist im Vergleich zu vielen anderen Entwürfen Ihres Büros ein eher kleines Gebäude ...
Das Messner-Museum hat uns natürlich Spaß gemacht. Auf so einem „Grundstück“ zu arbeiten ist ein seltenes Privileg. Wir haben uns dementsprechend intensiv den Kopf zerbrochen und in der Umsetzung engagiert. Der Entwurfsprozess war im Prinzip nicht anders als sonst auch: ein Auswahlprozess inmitten einer reichen Proliferation von Ansätzen, Ideen und Varianten.

Hat sich der Prozess der Ideenfindung, des Entwerfens seit dem Tod von Zaha Hadid geändert?
Nein, bisher noch nicht. Auch strukturell sind wir noch unverändert. Ich habe mehr als 25 Jahre mit Zaha zusammengearbeitet und wir haben in diesem Zeitraum unsere Methoden, unsere Werte sowie unser Team formiert. Der Entwicklungsprozess geht natürlich weiter, so dass in einem künftigen Rückblick in zehn Jahren – hoffentlich – einiges neu und anders – und besser – läuft: mit neuen Ideen, umgesetzt auf höherem wissenschaftlichen und professionellen Niveau – so wie sich 2019 gegenüber 2009 darstellt.

Waren Zaha Hadid und Sie ein „kongeniales“ Team?
Aus meiner Sicht unbedingt. Zaha hat das auch so empfunden. Es waren aber noch ein paar mehr kongeniale Mitstreiter nötig, um das zu erreichen, was wir erreicht haben. Ich bin, wie Zaha, ein Mensch der Ideen, weniger ein „Businessman“ oder Projektabwickler oder ein bautechnischer Virtuos.

Worin lag die Genialität von Zaha Hadid?
Zaha hat eine beispiellose Erweiterung des Entwurfsrepertoires der Disziplin geliefert, die allen Architekten und Designern neue Freiheitsgrade eröffnete. Sie hat das Möglichkeitsuniversum der Architektur ausgedehnt, den Suchraum der Designer, in dem man Lösungen nachspüren und sie finden konnte – beispiellose Lösungen. Aus der Perspektive eines erweiterten Lösungsraums sehen die Einschränkungen der ehemaligen, alten Suchräume wie willkürliche Dogmen aus, die viel Lösungspotenzial ausklammerten.

Was waren hier die wichtigsten Expansionsschritte?
Natürlich gab es den Verzicht auf den rechten Winkel im Austausch gegen Hunderte neuer Winkel, die genutzt werden könnten. Dies war jedoch eher ein allgemeines als ein einzigartiges Merkmal des damaligen „Dekonstruktivismus“. Deshalb möchte ich mich lieber auf drei völlig originelle „Entdeckungen“ konzentrieren, die Zaha unserer Disziplin geschenkt hat. Diese neuen Entwurfsschritte schienen zunächst völlig surreal oder absurd. Ich denke, dass hier zuvor auch noch niemand jemals unterwegs war.
Bei ihrer ersten radikalen Entdeckung von neuem entwerferischen Potenzial ging es darum, die dynamische Kurvatur des schnellen kalligrafischen Skizzierens wörtlich in eine Architekturzeichnung zu übersetzen, anstatt die Krümmung einer schnellen Skizze als grobe zufällige Andeutung eines intendierten stereotypen geometrischen Ideals, etwa eines Kreises oder Quadrats, zu behandeln. Die Linien von Handskizzen waren bis dato immer zu geraden Linien und Bögen rationalisiert worden. Die Kurven von Zaha weisen dagegen eine sich ständig ändernde Krümmung auf und bieten somit mehr Vielseitigkeit und Anpassungsfähigkeit. Abhängig von der sich ändernden Zentrifugalkraft der Beschleunigung und Verzögerung der schnellen Handschrift zeigen die Kurven und kurvenförmigen Kompositionen dynamische Trajektorien, die wir als zusammenhängende und lesbare Figuren erkennen können – jede mit ihrer je eigenen charaktervollen Gestalt und Dynamik. Eine neue Sprache der Architektur mit einer viel größeren Vielseitigkeit bei der Problemlösung und mit einem viel reichhaltigeren, ausdrucksstärkeren und kommunikativeren Repertoire an Organisation und Artikulation wurde so geboren. Der surreale Ausbruch wurde als kreativer Durchbruch eingelöst und instrumentalisiert. Die skizzierten Kurven wurden als Werkzeuge zur Lösung des Plans ernst genommen und in Ansatz gebracht. Neue, komplexe, effiziente und lesbare Kompositionen wurden so erarbeitet.

Und die zweite Innovation?
Die zweite, ebenso zunächst surreal anmutende Innovation zeitigte eine ebenso überraschende performative Fruchtbarkeit. Wir bauten Bildräume auf, in denen mehrere perspektivische Konstruktionen zu einer nahtlosen dynamischen Textur verschmolzen wurden. Ein Weg, diese Bilder zu verstehen, ist der Versuch, die Erfahrung einer Bewegung durch eine architektonische Komposition zu simulieren, die eine Abfolge ziemlich unterschiedlicher Sichtweisen offenbart. Eine andere, radikalere Art, diese Zeichnungen zu lesen, besteht darin, von den implizierten Ansichten zu abstrahieren und die Schwärme verzerrter Formen als eigenständige Architekturwelt mit ihren eigenen charakteristischen Formen, Kompositionsgesetzen und räumlichen Effekten zu erkennen. Eines der auffälligen Merkmale dieser großen Zeichnungen ist das Gefühl der Kohärenz – trotz des Reichtums und der Vielfalt der darin enthaltenen Formen. Es gibt nie eine Reihenfolge der monotonen Wiederholung, das Feld ändert sich vielmehr kontinuierlich. Gradienten, also weiche Übergänge, vermitteln zwischen großen ruhigen Bereichen und sehr dichten intensiven Zonen. Gewöhnlich sind diese Zusammensetzungen polyzentral und multidirektional. Alle diese Merkmale sind das Ergebnis der Verwendung mehrerer, sich durchdringender perspektivischer Projektionen. Oft wird die dynamische Intensität des Gesamtfelds erhöht, indem statt gerader Projektionslinien gekrümmte verwendet werden. Die projektive Geometrie erlaubte es uns, eine beliebig große und vielfältige Menge von Elementen unter das zusammenhängende Gesetz der Verkleinerung und Verzerrung zu bringen. Der resultierende Grafikraum nahm die späteren – und immer noch sehr aktuellen – Konzepte von Feld und Schwarm vorweg. Der erzielte Effekt ähnelt sehr jenen, die derzeit mit kurvenlinearen Netzdeformationen und digital simulierten „Gravitationsfeldern“ erzielt werden, die eine Reihe von Elementen oder Partikeln innerhalb des digitalen Modells erfassen, direktional koordiniert ausrichten und somit zusammenhalten.

Hinzu kommt die Einführung von Farbverläufen in das Repertoire der Architektur ...
Das war die dritte Innovation. Alle drei Züge kamen in der vierten Entdeckung sich potenzierend zusammen, nämlich in der Landschaftsanalogie, die Zaha als Leitidee aufgestellt hatte. Anstatt den Raum durch Wände zu zerlegen, schlägt die Landschaftsanalogie einen kontinuierlich fließenden Raum vor, in dem Zonen ineinander übergehen, Übergänge weich sind und ein glattes topografisches Bodenrelief anstelle von harten Kanten die räumlichen Beziehungen strukturiert. Durch diese unerwarteten und in der Tat auf wundersame Weise produktiven und überzeugenden Designbewegungen und -strategien eroberte und veränderte Zaha Hadid unsere Disziplin und gab ihr eine ganz neue Magie.

Viele Gebäude von Zaha Hadid Architects sind mit Beton realisiert. Was fasziniert Sie, was faszinierte Zaha Hadid an diesem Baustoff?
Beton hat für mich eine enorme Attraktivität. Zum einen liebe ich es, wenn die tragende Struktur eines Gebäudes zentral zu seinem architektonischen Ausdruck beiträgt. Zum anderen sind mir die Solidität und Langlebigkeit wichtig, ähnlich wie bei massivem Holz oder Stein. Beton hat aber darüber hinaus diese fantastische Plastizität und Formbarkeit. Kurven und räumlich plastische Kontinuität lassen sich kaum mit einem anderen Material so elegant und nahtlos artikulieren.

Inwiefern unterstützt das Material Beton das erfinderische, ideenreiche, kreative Entwerfen und Bauen?
Beton erlaubt es Architekten, mit der Konstruktion plastisch zu gestalten. Das ist entscheidend. Betonbauten wirken nie wie Attrappen oder Bühnenbilder; man kann sich hier auf die räumlich-architektonischen Aussagen und Versprechungen der Architektur verlassen.

Ihre Designforschungsgruppe ZHCODE entwickelt kundenspezifische Werkzeuge, um Fertigungsprozesse zu modellieren. Sie experimentieren mit verschiedenen Baustoffen, wie beispielsweise 3D-Betondruck. Welche Rolle wird der 3D-Betondruck in Zukunft spielen?
Das Drucken mit Beton ist noch in der Forschungsphase, aber fantastisch vielversprechend. Fragen der statischen Performanz und Verlässlichkeit sind noch nicht durchgehend geklärt. Zertifizierungen stehen noch an. Deshalb befindet sich diese Technologie noch in den Startlöchern. Sie wird aber kommen und sich verbreiten. Wir arbeiten inzwischen mit unserer Forschungsgruppe an den neuen architektonischen Ausdrucksmöglichkeiten, die sich hier eröffnen.

KnitCandela, entwickelt von ZHCODE, ist eine experimentelle Skulptur, ausgestellt im Museo Universitario Arte Contemporáneo, Mexico City, hergestellt aus KnitCrete. Welche Ideen verfolgen Sie mit diesem Experiment?
KnitCandela ist ein Architekturexperiment im Sinne des Tektonismus. Es geht hier darum, neue Raumbildungsprinzipien und tektonische Artikulationsmöglichkeiten zu erschließen, sowohl um die konstruktive und herstellungsmäßige Effizienz zu verbessern als auch die kommunikative Kapazität unserer gebauten Umwelt zu erweitern. Es geht hier um eine neue, ökonomische und ausdrucksstarke Architektursprache. KnitCandela ist aber nur ein kleines Fragment des expansiven Forschungsprogramms des Tektonismus. Hier wird Proliferation im Sinne der endlosen Formenvielfalt der Natur angestrebt, auch mit der generativen Logik und performativen Rationalität organischer Formen.

Bei Ihrem Forschungsprojekt „Agentenbasierte parametrische Semiologie – Lebensprozess-Simulationen“ wird unter anderem Spiele-Entwicklungssoftware eingesetzt. Die Spiele-Entwicklungsindustrie als Partner der Architekten?
Es geht hier um einen potenziell sehr produktiven Technologietransfer. Meine Forschungsgruppe entwickelt hier mittels Unity eine ganz neue Simulationskapazität, die sich zentral auf die Kernkompetenz unserer Disziplin bezieht, die ich mit der Formel „die räumlich-architektonische Ordnung sozialer Lebensprozesse“ bezeichne. Das Problem ist, dass unsere Disziplin diese Kompetenz  angesichts der kaum noch intuitiv überschaubaren Komplexität der sozialen Lebensprozesse nur mehr schwer glaubhaft aufrecht erhalten kann. Im Bereich der Spiele-Entwicklung haben sich Simulationsmethoden herausgebildet, die auf reale Lebenssituationen angepasst werden können. Darum geht es hier. Der Begriff der Semiologie kommt hier auch zum Tragen, weil die sozial-strukturierenden Leistungen der Architektur immer auch semiotisch vermittelt werden. Die Agenten reagieren differenziert auf gebaute Zeichen. Im Rahmen meines Forschungsprogramms – und durch meine mittels Simulation hochgerüsteten Entwurfsmethoden – lässt sich Architektursemiotik zum ersten Mal effektiv operationalisieren. Architekturen sind Kommunikationsräume, welche die sozialen Kommunikationsprozesse ermöglichen und ordnen. Daran lässt sich von nun an explizit informiert arbeiten.

Welche Rolle wird KI in Zukunft in der Architektur, beim Bauen einnehmen?
Eine Form von Künstlicher Intelligenz ist bei meinem oben genannten Forschungsprojekt schon im Einsatz. KI wird bald lawinenartig auf uns alle zukommen. Nicht nur im Hinblick auf den Entwurfsprozess, sondern auch in der gebauten Umwelt selbst. An der AA arbeite ich mit meinen Studenten gerade an kinetischen, intelligenten architektonischen Agenten. Das sind autonome Raumteiler und autonomes Mobiliar. Der Kontext ist die Welt der kreativen kommunikativen Arbeit, also Firmengebäude und Bürolandschaften. Wir stellen uns hier vor, dass unsere Bürolandschaft kreativ „mitdenkt“, spontan Angebote zur Raumkonfiguration macht und dann aus den Reaktionen der Mitarbeiter lernt. Auch unsere maschinellen „Mitarbeiter“ sollten intelligent und kreativ sein, anstatt auf Instruktionen zu warten.

Neue Ideen zu denken, zu entwickeln ist das eine, neue Ideen zu vermitteln das andere. Was kostet mehr Kraft?
Vermittlungsversuche lösen auch immer ein Weiterdenken aus. Das geht Hand in Hand. Kritik spornt an. Wenn aber die Resonanz ganz ausbleibt oder verebbt, lähmt das. Aber: Es gibt immer ein Publikum für Ideen. Mitstreiter sind seltener.

Sie haben Architektur an der Universität Stuttgart und an der Southbank University in London studiert und Philosophie an den Universitäten Bonn und London. Inwiefern hilft es Ihnen als Architekt, auch Philosoph zu sein?
Die Philosophie hat mir geholfen, fundamentale Fragen an die Architektur zu stellen, und die Gesellschaftstheorie hat dann schließlich dazu beigetragen, diese Fragen zu beantworten. Zum Beispiel: Was ist Architektur? Die Disziplin, die für die Innovation der gebauten Umwelt zuständig ist. Was ist der Beitrag der gebauten Umwelt zur Gesellschaft? Die gesellschaftliche Funktion der Architektur ist die innovative, räumlich-semiotische Ordnung sozialer Kommunikationsprozesse – mit Bezug auf die historisch gegenwärtigen gesellschaftlichen Herausforderungen und auf die technologischen Potenzen. Was ist hier die relevante Erneuerungsbewegung der Gegenwartsgesellschaft? Die neue Komplexität, Verdichtung und Dynamisierung aller urbanen Arbeits- und Lebensprozesse in unserer postfordistischen Netzwerkgesellschaft. Auf der Basis einer solchen grundlegenden Orientierung kann man dann ein strategisches Architektur-Entwicklungsprogramm ausarbeiten – zum Beispiel: Parametrismus und Parametrismus 2.0.

Haben Sie herzlichen Dank für das Gespräch!

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