betonprisma 99: Wahrnehmung
Béton Brut
Le Corbusier und der unbeschreibliche Raum
Der sichtbar belassene, rohe Beton – der berühmt gewordene Béton Brut – ist Ausgangspunkt für die Entstehung einer Raumidee, die Le Corbusier, ausgehend vom Purismus, durch die Gestaltung von Konturen und Flächen grundlegend weiterentwickelt und schließlich in ein modulares, am Maß des Menschen orientiertes System transformiert: die Idee des unbeschreiblichen Raumes.
von Anna Rosellini
Für Le Corbusier ist der Werkstoff Beton nicht nur Material, sondern gleichzeitig auch Instrument für die Realisierung einer innovativen Architektur, die über bereits anerkannte Prinzipien des Neuen Bauens weit hinausweist. Eine besondere Bedeutung kommt dabei dem Béton Brut zu, dem von allen Einschränkungen befreiten Beton, die mit Blick auf die verschiedenen Varianten der Tragstruktur „Dom-Ino“ noch bis zum Ende der zwanziger Jahre galten. Le Corbusier eröffnet damit gänzlich neue räumlich-skulpturale Dimensionen, die auf seiner Idee des „Espace Indicible“, des unbeschreiblichen Raumes, basieren.
Fotografien der verschiedenen „Unités d' Habitation“, der Wohnmaschinen inmitten unterschiedlichster Landschaften, sowie frühe Aufnahmen der Kapelle in Ronchamp führen anschaulich die Konkretisierung der Idee des unbeschreiblichen Raumes durch plastische Konstruktionen aus bewehrtem Beton vor Augen.
Mit der Systematisierung spezifischer Schalungstechniken und -materialien, der sogenannten Stereotomie, dokumentiert Le Corbusier Oberflächentexturen aus Sichtbeton in unterschiedlichsten Kulturen, von Japan über Indien bis Amerika und Europa. Im Mittelpunkt seiner Studien stehen rhythmisierte Oberflächenstrukturen, die den Blick des Betrachters auf die ausgewogenen Proportionen des Bauwerks und die konsequenten Bezüge zur Landschaft lenken. Le Corbusier beginnt, künstliche Landschaften aus Sichtbeton als Antwort auf die natürliche Landschaft zu erschaffen, die essenzielles Merkmal des unbeschreiblichen Raumes ist: So ist die Unité d'Habitation in Marseille auf mächtigen Stützen, den Pilotis, aufgeständert und ermöglicht im Erdgeschossbereich weiterhin den Blick in die Landschaft, mit der auch die skulptural geformten Dachaufbauten in Dialog treten.
Art Brut als Instrument für die Interpretation kultureller und technischer Vielfalt
Le Corbusier, dessen letzte Werke an verschiedenen Standorten weltweit errichtet wurden, vermochte als Erster zu zeigen, dass der Werkstoff Beton den regional bedingten technischen und kulturellen Eigenheiten eine besondere Sichtbarkeit zu verleihen vermag.
Bedingt durch sein künstlerisches und gesellschaftliches Verständnis sowie seine Fähigkeit, jede Art von fremden Einflüssen zu integrieren, lassen sich in Le Corbusiers Béton Brut beispielsweise die Kunstfertigkeiten japanischer Handwerker beim Zuschneiden und Zusammenfügen der Schalungsbretter genauso ablesen wie die einfachen Methoden indischer Bautradition bei den Bauten in Chandigarh und Ahmedabad. In den USA zeigt sich dann beim Bau des Carpenter Center for the Visual Arts der technische Fortschritt: Für die Rundstützen der Pilotis kamen Fertigschalungen zum Einsatz, die durchgehenden Wandflächen wurden mittels großer, mit V-förmiger Fase gestoßener Sperrholzplatten geschalt. Ebenso verdeutlichen Unzulänglichkeiten der Verarbeitung auf Baustellen in Frankreich die wirtschaftlichen Zwänge der unmittelbaren Nachkriegszeit. Le Corbusier jedoch gelingt es immer wieder, eben diesen Unzulänglichkeiten eine Existenzberechtigung zu verleihen, indem er sie als Charakteristikum der Art Brut sowie künstlerischer Prozesse definiert. Kein anderer Protagonist des Brutalismus der nachfolgenden Jahre vermochte es so gut, im Beton ein Instrument für die Interpretation der kulturellen und technischen Vielfalt zu erkennen.
Brise-soleil, also außen an der Fassade angebrachte feststehende Sonnen-schutzlamellen aus Beton, Balkone, Stützen und Träger sowie geschlossene Felder bilden die wesentlichen kompositorischen Konstruktionselemente der Bauwerke Le Corbusiers. Ihre besondere räumliche Wirkung erzielen sie insbesondere aufgrund der Materialwahl und der Modellierung des Béton Brut. Die perfekt ebenmäßigen Putzflächen, die Le Corbusier einst unter minutiöser Achtsamkeit verwendete, verwandeln sich jetzt in raue Gebilde, die in Bezug zu den Konturen des Bauwerks treten.
Spritzbeton für das Spiel von transparenten, hellen und dunklen Flächen
Erzielt wird der Oberflächeneffekt mit einer Technik, die immer auch im Zusammenhang mit den vielfältigen expressiven Anwendungen des Betons im 20. Jahrhundert zu sehen ist – dem Spritzbetonverfahren. Nicht mehr das Zusammenspiel von Volumen und Licht bildet in den letzten großen Entwürfen Le Corbusiers das zentrale Thema, sondern ein lebhaftes, kontrastreiches und geradezu dramatisches Spiel von transparenten sowie hellen und dunklen Flächen, die von der Detailebene bis zum Gebäudeensemble reichen. Fast entsteht der Eindruck, Le Corbusier konstruiere mit dieser revolutionären Technik des 20. Jahrhunderts faszinierende Ruinen.
Le Corbusier gelingt es schließlich, von herkömmlichen orthogonalen Konstruktionsweisen befreit, Raumvorstellungen zu konkretisieren, die sich bereits in den Werken der 1930er Jahre andeuteten und die er selbst als „Surfaces Gauches“, als raumgreifend modellierte Flächen definierte: Die Wände werden zu flexibel formbaren Elementen, die er vorzugsweise mittels Spritzbeton errichtet. Auch seine ersten Ideen für das Kapitol in Chandigarh sehen im Spritzbeton die Möglichkeit zur Idealisierung solcher Oberflächen, die einzig und allein Antwort auf die Landschaft zu Füßen des Himalaja sein könnten.
Synthese plastischer Künste
Seit Beginn der 1940er Jahre wendet sich Le Corbusier der Bildhauerei zu. Er entwickelt neue plastische Formen, aus bewehrtem Beton modelliert. Schließlich verhilft ihm die Auseinandersetzung mit der Bildhauerei dazu, eine Vielfalt an Formen zu entwickeln, die über die bereits komplexen zeitgenössischen Ingenieurleistungen hinausreichen und seinerzeit nur mithilfe bewehrter Betonstrukturen hergestellt werden konnten. So verwirklichte sich mit Le Corbusiers Vision von Stahlbeton und den verschiedenen Konstruktions-techniken eine Synthese plastischer Künste, wie sie fortwährend von ihm angestrebt worden war. Die Kapelle in Ronchamp sollte in der ursprünglichen Planung, unter vollständigem Verzicht auf Schalungsformen und unabhängig von der Kunstfertigkeit der Schalungszimmerer, zu einer technischen Meisterleistung der neuen Betonbauweise werden: eine Leichtbaukonstruktion aus Stahl, geformt wie ein Flugzeugrumpf, aus der durch Aufbringen von Spritzbeton Wände und Dächer entstehen.
Weitere wesentliche künstlerische Elemente der skulpturalen Vision, in der Le Corbusier in den letzten Jahrzehnten seines Schaffens den Stahlbeton sieht, sind künstlerisch-dekorative Prägungen durch natürliche Gegenstände, Abformungen und durch in die Schalung eingelegte Holzleisten geschaffene Reliefs.
Infolge der visionären Studien Le Corbusiers mit dem Béton Brut veränderte sich der Architekturstil des 20. Jahrhunderts radikal. Beton avancierte zu einem künstlerischen Werkstoff, auf den die wichtigsten Architekten der nachfolgenden
Generationen zurückgriffen – von Kahn über Rudolph, Scarpa und Tange bis zu Mayekawa. Sie alle entwickelten technische Varianten fort, um exzellente formale Lösungen erzielen zu können.
Es ist immer der Béton Brut Le Corbusiers, mit seinen ungewöhnlichen und unerwarteten Unregelmäßigkeiten, der den Bildhauern, die Beton bis dato lediglich für die Erstellung von Kopien der Werke aus Marmor oder Stein oder als Ersatz für Stein genutzt hatten, das gesamte expressive Potenzial des Materials vor Augen führt. Es ist kein Zufall, dass der junge Anselm Kiefer während eines Aufenthalts im Kloster La Tourette die mystische, künstlerische und konzeptionelle Natur des Betons entdeckt, die er später bei seinen Türmen aus vorgefertigten Betonelementen zum Ausdruck bringt.
Instandsetzungsarbeiten an Le Corbusiers Bauwerken aus Béton Brut, die seine künstlerische und gesellschaftliche Vision sowie seinen Entschluss, Herstellungsspuren und Unvollkommenheiten sichtbar zu belassen, nicht berücksichtigen, kommen so fast einem Vergehen gleich. Eine umfassende „Perfektionierung“ seines speziellen Béton Brut, der sich bei jedem Bauwerk anders darstellt, würde Le Corbusiers großartige Idee negieren. Vielmehr gilt es, die Vielfältigkeit des Materials mit all ihren kulturellen und strukturellen Kontrasten zu akzeptieren und zu integrieren.
Anna Rosellini arbeitet am Laboratoire de Théorie et d'Histoire der EPFL in Lausanne und ist gemeinsam mit Roberto Cardiani Autorin des Buches „Le Corbusier: Béton Brut und der Unbeschreibliche Raum (1940-1965): Oberflächenmaterialien und die Psychophysiologie des Sehens“.
Übersetzung aus dem Italienischen von Maren Paetzold.