betonprisma 89: Familie
90 Jahre Leben – 20 Jahre Familie
Prof. Dr. Hans Bertram über den Wandel des Familienlebens
Die Familie ist der Kern aller menschlichen Beziehungen. Aber durch die Pluralisierung der Lebensformen, durch demographischen Wandel und Veränderungen ländlicher und städtischer Lebensbedingungen verändert sich auch die Lebensform der Familie. Was heißt heute Familie – und wo und wie können Familien wohnen? Wir fragten Prof. Dr. Hans Bertram zu seinem Verständnis von Familie, Wohnen und Bauen.
Herr Professor Bertram: Sie sind Soziologe und Familienexperte – uns interessiert das Thema Wohnen. Fangen wir also an mit zwei ganz grundlegenden Fragen: Wie definiert sich heute der Begriff Familie, und wie manifestiert sich die historische Entwicklung von Familie im Wohnen?
Familie wird seit jeher über die Beziehungen zwischen einem Paar definiert, das sich wechselseitig auf verschiedensten Ebenen unterstützt. Und dieses Paar hat Beziehungen einmal zur nachwachsenden Generation und zum anderen zur eigenen Elterngeneration.
Ein starker Wandel hat sich vollzogen in der Art und Weise, wie Familie gelebt und – wenn Sie so wollen – gewohnt wird, und das hat mit Ihrem Thema viel zu tun: Noch im 19. Jahrhundert lebten ganze Beziehungsmuster unter einem Dach – als ökonomische, wirtschaftliche und auch produktionstechnische Einheit. Erst mit der Trennung dieser Muster, später dann manifestiert mit dem Eigenheim im Grünen, entwickelte sich der Wunsch nach Intimität und Privatheit. Und während diese Werte früher eben an die Führung eines gemeinsamen Haushalts gebunden waren, kennen wir heutzutage das Phänomen der „Intimität auf Distanz“: Großeltern gehören zwar nicht mehr zum Haushalt, pflegen aber durchaus noch intime Beziehungen zu den Kindern. Und viele Paare leben dieses living-apart-together, also Intimität ohne gemeinsame Wohnung.
Bleiben wir bei der heutigen Situation und bei dem gestiegenen Bedarf an Wohnraum, der sich unter anderem auch aus diesen funktionalen Trennungen ergeben hat: wie verteilt sich dieser Bedarf auf Stadt und Land?
Das kinderlose Paar mit zwei Wohnungen – das ist eine Lebensform, die Sie in vielen Großstädten häufig finden. Paare mit Kindern zieht es dagegen aus der Stadt ins Umland, mit den bekannten Problemen und Konsequenzen: in den Großstädten gerät die soziale Durchmischung aus dem Gleichgewicht – und manche Gemeinden im Umland haben ihre Einwohnerzahlen mit jungen, zahlungskräftigen Familien verdoppelt. Dieser Trend ist übrigens so stark, dass er mittlerweile sogar Unternehmen veranlasst, aus den Städten heraus zu ziehen. Also die Companies gehen zu den Moms hin… Bleibt noch die dritte Gruppe, die Älteren: die sind nicht so mobil, sondern bleiben in der Regel da wohnen, wo sie sich einmal niedergelassen haben.
Ist die Stadtflucht junger Familien tatsächlich ein so deutlicher Trend? Der allgemeine Eindruck ist doch, dass hier ein Umdenken stattgefunden hat und gerade in den Städten viel in Kinderbetreuung und Familienfreundlichkeit investiert wird.
Großstädte sind nicht die Orte, wo Familien mit Kindern mehrheitlich leben wollen. Man mag ja über Jägerzäune denken wie man will, aber wenn Sie ein sechsjähriges Kind haben, sind Sie vielleicht ganz froh, wenn Sie einen haben. Es gibt eben auch das Bedürfnis und die Notwendigkeit Kinder zu schützen. Der zweite Punkt aber ist: Eltern schätzen es, wenn sie in bestimmten Lebensphasen andere Eltern haben, mit denen sie sich austauschen können. Machbar ist das zwar auch in Städten, wie man in Berlin Prenzlauer Berg gut sehen kann. Da werden ja nicht mehr Kinder geboren, sondern da wandern junge Paare mit Kindern hin, weil man weiß, hier wird etwas für Kinder getan. Aber das ist – soweit ich das beurteilen kann – eher die Ausnahme als die Regel.
Zentrales Thema aktueller Familienpolitik ist die Vereinbarung von Familie und Beruf. Wenn wir die Aufmerksamkeit einmal auf das Wohnen und den Städtebau lenken – sehen Sie auch hier Ansätze für eine konkrete Unterstützung von Familien?
Unbedingt – und zuallererst im öffentlichen, nicht im privaten Raum. Sehen Sie: Wenn wir Orte schaffen, an denen Kinder sich wohl fühlen, dann entlastet das Eltern vermutlich mehr als manch andere wohlmeinende Maßnahme. Tatsache ist, dass Kinder keinen wirklichen Fokus mehr in unserer Lebenslandschaft haben und die Eltern im Grunde genommen diejenigen sind, die das in irgendeiner Weise auffangen müssen.
Können Sie ein Beispiel nennen, wo das in Ihrem Sinne realisiert ist?
In Gelsenkirchen gibt es eine Gesamtschule der Evangelischen Kirche. Die ist wirklich sehr schön konzipiert mit einzelnen Häusern, bei denen unterschiedliche Nutzen und Funktionen von vornherein mitgedacht wurden. Und obwohl sie in einem ganz benachteiligten Stadtviertel steht, ist sie ein unheimlicher Attraktionspunkt, eben weil schon durch die baulichen Gegebenheiten das Gefühl vermittelt wird: Dort ist ein Ort, da sind die Kinder wirklich gut aufgehoben. Ich denke, uns fehlt eine Formensprache, die den unterschiedlichen Bedürfnissen von Kindern – aber möglicherweise auch von Älteren – so entgegenkommt, dass sie da gerne hingehen und auch gerne bleiben.
Familie bedeutet Verantwortung nicht nur für die jüngere, sondern auch für die ältere Generation. Wie sieht es Ihrer Einschätzung nach mit den Wohnkonzepten für Ältere aus?
Erstes Ziel solcher Wohnkonzepte muss es sein, eine professionelle Unterstützung zu gewährleisten. Und ich muss diese Orte für ältere Menschen an das Leben einer Stadt oder einer Gemeinde heranführen und nicht irgendwo außerhalb installieren. Das ist vor allem auch deshalb so wichtig, weil die demographische Entwicklung darauf hinausläuft, dass Alte für Alte sorgen müssen, und zwar außerhalb eines Familienverbundes. Es wird nicht gehen ohne solidarische Leistungen, und man wird sie umso leichter einfordern können, je attraktiver der Ort ist, an dem die verschiedenen Interessen und Bedürfnisse gebündelt werden. Sie sehen eine solche Entwicklung in Berlin am Potsdamer Platz. Wer zieht da hin? Leute aus mittelgroßen Städten im fortgeschrittenen Alter, die diese fantastische Infrastruktur inmitten der Großstadt nutzen wollen. Hier haben wir es mit der Weitsicht und Eigeninitiative einer vergleichsweise kleinen älteren Population zu tun. Worum es geht, ist, attraktive Anziehungspunkte für einen viel größeren Kreis betagter Menschen zu schaffen. Mein historisches Ideal hierzu sind die Beginenhöfe in Brügge, die waren genauso konzipiert.
Familien brauchen also Orte für Kinder und Orte für ältere Menschen, um in ihrer komplexen Gestaltungsaufgabe und hohen sozialen Verantwortung unterstützt zu werden. Interessiert den Soziologen auch die Frage, welches nun eigentlich der zentrale Ort für das gemeinsame Familienleben ist?
Selbstverständlich – nur die Antwort ist schwer zu geben. Weil diese klassische Familienphase nur noch ein Teilelement im Lebenslauf des Menschen ist. Sie haben im Grunde genommen in einem 90jährigen Leben nur 20 Jahre intensive Familienphase. Das ist völlig neu, das hat es historisch nie gegeben. In Bezug auf den Hausbau etwa heißt das: Die Menschen sind heute viel älter, wenn sie diese Entscheidung treffen – und gleichzeitig haben die Häuser für die Familien eine viel kürzere Nutzungsdauer. Wie man diese völlig gewandelten Prozesse aufeinander bezieht, darauf haben wir noch keinerlei Antworten.
Zusammenfassend gesagt: Die gebaute Vorstellung von Familie hinkt der Realität von Familienleben meilenweit hinterher…
… ja, weil unser Denken – ich denke seit dem Bauhaus – bestimmte familiäre Lebensformen unterstellt. Das Problem ist nur, dass in dieser Bauhaustradition alles so funktionalisiert und standardisiert wurde, dass sich hier nichts mehr variieren oder ausdifferenzieren lässt.
Welche Konzepte brauchen wir Ihrer Meinung nach für den zukünftigen Wohnungsbau?
Im Grunde genommen müsste man sehr viel stärker mit dem Konstrukt der Bauherrengemeinschaft operieren. Dagegen haben wir ja in Deutschland folgende Situation: Entweder man macht es ganz allein, sozusagen das Top-Einfamilienhaus – oder man wird zum Kunden großer Bauträger. Was uns fehlt sind Konzepte, die Leute mit gleichen Ideen an Standorten zusammenbringen, die sich für einen Bauträger nicht unbedingt lohnen.
Worum es natürlich auch geht, ist zum einen die gebaute Form so flexibel wie möglich zu halten, damit sie den Wandel der Lebensform mittragen kann – andererseits braucht es vielleicht neue Finanzierungsmodelle, die einen Wechsel in bedarfsgerechtere Wohnverhältnisse irgendwann im Anschluss an die Familienphase offen halten. Aber das ist noch ein weiter Weg…
Vielen Dank für das Gespräch.
Professor Dr. Hans Bertram ist Inhaber des Lehrstuhls für Mikrosoziologie am
Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin. Seit 1992 lehrt und forscht er u.a. über die Themen Familie, Kinder und Gesellschaft. Er ist Autor zahlreicher Publikationen zu diesem Thema, so auch als Vorsitzender der Sachverständigenkommission für den Siebten Familienbericht der Bundesrepublik Deutschland.