betonprisma 89: Familie
Familiäres Wohnen zum Anfassen
Eine Reise durch das Rhein-Main-Gebiet am Tag der Architektur
Kaum eine Entscheidung ist für Familien weitreichender als die nach dem idealen Wohnraum. Zeitschriften und Literatur geben Hinweise – aber wo findet man familiäres Wohnen zum Anfassen, können sich Familien über Wünsche, Meinungen und Erfahrungen mit Bauherren und Architekten austauschen? Der Tag der Architektur bietet Einblick in unterschiedliche Wohnmöglichkeiten für Familien.
Seit 15 Jahren öffnen, immer am letzten Juni-Wochenende, die verschiedenen Neu- und Umbauten ihre Türen. Fabriken und Schulen werden von ihren Architekten und Nutzern vorgestellt, Gärten und Bürohäuser und vor allem immer wieder Wohn-Räume. Sie stellen gut 40 Prozent der am Tag der Architektur vorgestellten Gebäude und stießen von Beginn an auf besonders großes Interesse. So manches Einfamilienhaus wurde an diesem Tag schon von mehreren hundert Besuchern beehrt – Besuchern, die ihre eigenen Vorstellungen vom Wohnen alleine oder zu zweit, in der Familie oder als Gruppe am guten Beispiel testen wollen. Die einfache und gerade deshalb so gute Idee, zeitgenössisches Bauen nicht theoretisch-abstrakt, sondern ganz pragmatisch im wahrsten Sinne des Wortes begreifbar zu machen, hat sich bewährt. Der „Tag der Architektur“, 1995 in Hessen, Rheinland-Pfalz, dem Saarland und Thüringen aus der Taufe gehoben, ist inzwischen deutschlandweit etabliert; die Architektenkammern aller 16 Bundesländer veranstalten ihn jedes Jahr. Ob in Flensburg oder Traunstein, Cottbus oder Saarlouis: Wer möchte, findet offene Türen und Ohren.
Was macht einen Wohnraum kindgerecht?
Das Einfamilienhaus.
Wir machen uns am 28. Juni, einem strahlenden Sonntag, auf den Weg durch das Rhein-Main-Gebiet und wollen erkunden, was der Tag der Architektur zum Thema „Familie“ zu bieten hat. Unsere erste Station ist Friedberg, Kreisstadt des Wetteraukreises und durchaus noch im Speckgürtel Frankfurts gelegen. In einer ruhigen Seitenstraße, zentral genug, um zu Fuß in die Innenstadt zu gehen, haben die ortsansässigen Architekten Müller & Kölsch für ein junges Ehepaar ein durchaus opulentes Einfamilienhaus gebaut. Gut hundert Architekturtouristen haben sich auf den Weg nach Friedberg gemacht und werden von Architekten und Bauherren begrüßt. Das Haus, mit flachem Dach und durch unterschiedliche Fassadenmaterialien klar gegliedert, hebt sich deutlich von der Nachbarbebauung ab, „Reduktion“ und „kubischer Minimalismus“ sind Stichworte, die den Bauherren ebenso locker von den Lippen gehen wie den Architekten.
Vor dem Betreten des Hauses heißt es: Schuhe aus – eine Aufforderung, der alle klaglos nachkommen. Viele Besucher nutzen die Gelegenheit, um sich erstmals z. B. mit gläsernen Treppenstufen auseinanderzusetzen; die Architekten erklären geduldig und anschaulich, wie sie die Vorstellungen und Bedürfnisse ihrer Auftraggeber umgesetzt haben. Trotz der kinderlosen Bauherren und einiger auf den ersten Blick durchaus nicht (klein-)kindgerechten Detaillösungen sind hier Familien mit Kindern anzutreffen, die nachahmenswerte Anregungen für die eigenen Baupläne suchen. Der Hausherr enttäuscht sie nicht: „Kinder sind doch nichts anderes als kleine Menschen. Wir wollen auch Kinder, haben aber noch keine konkreten Pläne. Im Haus gibt es daher Räume, die bei Bedarf als Kinderzimmer genutzt werden können, ein Bad in der Nähe, das Kinderbad werden kann, aber ganz bewusst eben keine spezifischen Kinderlösungen.“ Was bei einigen Zuhörern zunächst Stirnrunzeln hervorruft, leuchtet bei näherer Erläuterung durchaus ein: Was macht eine der typischen, in Berlin wie in München oder Hamburg so überaus beliebten Wohnungen der Gründerzeit kindgerecht? Nichts – außer den großzügig dimensionierten, gut belichteten, quasi nutzungsneutralen Räumen, die eben auch wunderbare Kinderzimmer sein können!
Ein Besucherpaar mit zwei Kindern schaut sich das Haus ganz besonders genau an. Sie sind, so stellt sich heraus, ebenfalls Bauherren der Architekten Müller & Kölsch. Ihr neues Wohnhaus ist noch in der Planungsphase und sie nutzen den Tag der Architektur, um sich ein realisiertes Gebäude ihrer Architekten ganz genau anzuschauen: „Das ist für uns Anschauungsmaterial im Maßstab 1 : 1. Wir können alles nicht nur anschauen, sondern auch anfassen und die Räume auf uns wirken lassen. Was will man mehr?“
Gewachsende Potenziale nutzen!
Die Wohnscheune.
Wir wollen noch mehr und fahren weiter nach Süden, unser nächstes Ziel ist Rendel, Ortsteil von Karben und ein echtes Dorf. Hier, mitten im Ortskern, haben Anja Schützel und Stephan Kuger-Galys, Architekten und Bauherren in einem, eine maßgeschneiderte „Wohnscheune“ für ihre fünfköpfige Patchworkfamilie gebaut. Die alte Scheune, die hier stand, war nicht mehr zu retten und musste abgerissen werden, der Neubau entstand aber „im Geist“ und exakt in der Kubatur des Ursprungsbaus. Schützel und Kuger-Galys setzten die streng begrenzten räumlichen und finanziellen Mittel sehr gezielt ein, überlegten genau, wie sie als Familie mit einer kleinen Tochter und zwei zeitweise mitwohnenden Teenagern hier leben wollten und übersetzten dies ins neue Haus. Das wurde so zum gebauten Programm: Wo einst die Tordurchfahrt der Scheune den vorderen Hof mit dem hinteren (Nutz-) Garten verband, bildet heute der nach beiden Seiten verglaste, zweigeschossige Ess- und Kaminraum das Zentrum des Familienlebens und des Hauses. Küche, Lese- und Arbeitszimmer grenzen unmittelbar und offen an; die individuellen Räume für Kinder und Eltern, gerade einmal je zehn Quadratmeter groß, sind auf das Nötigste reduziert. Kuger-Galys betont, dass er nicht versteht, warum gerade auf dem Land immer mehr Häuser in den Ortskernen leer stehen, während gleichzeitig immer neue Baugebiete an den Dorfrändern wachsen: „Warum Jahre in einer Wüstenei leben, anstatt die über Jahrhunderte gewachsenen Potenziale der Ortskerne zu nutzen?“ Viele interessierte Besucher hören zu. So viele, dass sie das kleine Haus gar nicht fassen kann. Auch im idyllischen Obst- und Gemüsegarten hinter dem Haus drängen sich die Neugierigen. Viele sind aus dem Dorf und wollen sehen, was hier, von der engen Gasse aus kaum wahrnehmbar, geschehen ist. Heute ist dazu Gelegenheit.
Ausverkauft.
Die Wohnanlage im Passivhausstandard.
Das letzte Ziel unserer kleinen Reise ist Frankfurt am Main. Am Riedberg, einem seit rund zehn Jahren neu entstehenden Stadtteil im Norden der Mainmetropole, wollen wir eine aus 56 Eigentumswohnungen bestehende Wohnanlage „Made in Switzerland“ besichtigen und ergründen, was diese für Familien zu bieten hat. Bis 2017 soll der Riedberg, mit insgesamt 266 Hektar aktuell die größte städtebauliche Planung der Republik, fertig gestellt sein und dann 15.000 Einwohner haben. Das renommierte Berner Architekturbüro Atelier 5, schon Anfang der 1960er Jahre mit ihrer Siedlung Halen zu internationalem Ansehen gekommen, hat auch hier ihr quasi zum Markenzeichen gewordenes Konzept von damals umgesetzt. Das Wohngebiet liegt entlang einer ansteigenden Straße, die durch Terrassen geprägt ist. Die Gebäude sind jeweils von der Straße abgedreht und bieten den Bewohnern durch ein schützendes Vorland mit üppiger Vegetation ausreichenden Abstand zum Straßenverkehr. Das Innere der Terrassenanlagen ist geprägt von einer verdichteten Hof-Bebauung. Der Platz bietet den Bewohnern einen Ort der Gemeinschaft.
Die Siedlung wird im Passivhausstandard in drei Etappen errichtet. Der erste Bauabschnitt, gerade fertiggestellt, ist geprägt durch eine relativ hohe Verdichtung und das gekonnte Zusammenspiel von privaten Außenräumen (Balkons, Loggien, Gärten) und einem zentralen, halböffentlichen Innenhof. „Take Five“ sticht schon von weitem hervor. Die routinierte Tiefen- und Höhenstaffelung der großen Baumasse ist unbestreitbar hoch. Zwei- bis Sechs-Zimmer-Woh- nungen gibt es hier im Quartier „Schöne Aussicht“, zum Teil über zwei oder gar drei Geschosse gehend. Auch Atelier-, Penthouse- oder Loftwohnungen werden angeboten.
Viele Besucher, darunter auch einige Familien mit Kindern, sind gekommen, um zu ergründen, ob der Cocktail aus hoher Dichte und Privatheit schmeckt. Die Vertreter des Bauherrn, eines architektonisch vergleichsweise anspruchsvollen Bauträgers aus Hanau, beantworten die Fragen der Besucher. Leider steht keine der Wohnungen für eine Besichtigung zur Verfügung. „Wider Erwarten“, so ein Vertreter des Bauherren, sind seit der Bewerbung zur Teilnahme am Tag der Architektur alle Wohnungen verkauft worden. Anspruchsvolle Wohnbebauung scheint also gefragt zu sein – insbesondere dann, wenn sie Passivhausstandard bietet.
Eine vierköpfige Familie aus Südhessen, der täglichen Pendelei nach Frankfurt müde, doch den hiesigen Preisen für ein eigenes Haus nicht gewachsen, hatte sich tiefere Eindrücke und damit Entscheidungshilfen vom Besuch am Riedberg versprochen. „Die Anlage ist schön, besonders der Hof mit dem Spielplatz und die privaten Gärten. Wir müssen wohl den nächsten Bauabschnitt abwarten.“ Dem Junior gefiel´s: „Die Aussicht auf die Wolkenkratzer ist echt cool.“
Drei Häuser, drei sehr verschiedene Beiträge zum Thema „Familie und Wohnen“ haben wir besucht. So verschieden wie die Menschen, die sie bewohnen und die sie erdacht haben, so verschieden wie die Bauten, die alljährlich beim Tag der Architektur präsentiert werden. Auch nächsten Juni werden wieder viele Interessierte unterwegs sein. Sie werden danach bestimmt besser wissen, was für sie das Richtige ist.
Christof Bodenbach